Last Minute Wahlaufruf du meine Wahlempfehlung

Wie ihr wisst bin ich nun schon ein paar Jahre aus der Piratenpartei ausgetreten. Je mehr Zeit vergeht, desto richtiger scheint der Schritt gewesen zu sein. In den letzten Jahren habe ich mal mehr oder mal weniger öffentlich Parteien unterstützt u.a. die Linke zur Berlin Wahl.

Nun steht eine der wichtigsten Wahlen überhaupt an: die Europawahl. Seit Donnerstag wird in Europa gewählt und morgen dann auch endlich in Deutschland. Die EU bestimmt so viel in unseren Leben, deswegen darf es uns nicht egal sein wer  und was im EU Parlament passiert. Undemokratische populistische Parteien und Parolen bekommen immer mehr Zulauf. Diese wollen nur zerstören und nichts erbauen. Dabei geht es um so viel. Ganz pathetisch ausgedrückt: um unsere Zukunft. In welcher Welt wollen wir leben? In einer Welt wo autoritäre Kleptomanen herrschen? In der die Umwelt zu Grunde geht und Millionen Arten aussterben? Eine Welt wo Grenzen wichtiger sind als Menschenleben? Ich will in so einer Welt nicht leben. Schon allein aus egoistischen Motiven heraus: Das Leben in so einer Welt, entspricht nicht meiner Idee eines schönen Lebens.

„Ok. Verstanden Jan. Deswegen sollen wir wählen gehen. Aber welche Partei?“  Wie ihr wisst bin ich kein Politiker mehr und kann euch nur meine Wahlentscheidung näherbringen. Ich empfehle euch natürlich das nützliche Werkzeug aus dem Haus meines Arbeitsgeber: Den Wahl-O-Mat. Dieser nimmt euch aber nicht die Wahlentscheidung ab, sondern unterstützt euch. Bitte lest auch die Argumente der Parteien und informiert euch auch über den Wahl-O-Mat hinaus. Das Schöne an dieser Europawahl ist, dass wir die demokratische Freiheit haben aus mehr als nur ein paar Parteien zu entscheiden, welche die Chance haben über die 5 % Hürde zu kommen. Es gibt nämlich keine Hürde in Deutschland für das EU Parlament. 0,6 Prozent der Stimmen reicht für einen Sitz. Ich als Gegner von Sperrklauseln freue mich über diese Möglichkeit über den Tellerrand zu blicken. Und dieser Blick lohnt sich!

Die letzten Monate wäre die Antwort mir leichter gefallen zu sagen, wenn ich wähle. Nämlich die paneuropäischen Bewegung Diem25. Diese hat den European Green New Deal auf ihre Fahne geschrieben und dieser ist wie das US-amerikanische Gegenstück der richtige Anfang um die gewaltigen Probleme der Gegenwart und Zukunft anzugehen. Es gibt wie bei jeder Partei, auch hier eine Schattenseite. Hier ist es unter anderen die scheinbare Nähe zur Antisemitischen BDS. Teile der deutschen Bewegung sind sogar Mitglied bei BDS. Zwar hat dies bisher keine Auswirkungen auf das Programm, aber ohne Distanzierung von Diem25 von BDS hat das mehr als nur einen faden Beigeschmack.

Ein weiterer Vorwurf ist der des Personenkults um den Spitzenkandidaten Yanis Varoufakis, den Wirtschaftsprofessor und ehemaligen Finanzminister von Griechenland. Und da fühle ich mich auch „ertappt“. Das ist wirklich der ursprüngliche Grund warum ich mich für Diem25 interessiert habe. Eine paneuropäische Bewegung welche u.a. von einem der progressivsten Köpfe Europas mitgegründet wurde. Nun gibt es die Chance Varoufakis in das Europaparlament zu wählen. Ich bin immer noch überzeugt, dass er das nächste EP Parlament zu einem besseren machen würde. Wir haben mit Julia Reda gesehen was ein Sitz für die richtige Person mit der richtigen Agenda bewirken kann. Yanis würde eine der progressiven Stimmen sein, welche das EU Parlament braucht. Dies gepaart mit der Kraft einer paneuropäischen Bewegung, welche andere Antworten suchen als die ganzen antidemokratischen Populisten*innen und trotzdem kritisch hinterfragt, kann der Anfang der Erneuerung sein, die wir so dringend benötigen. Denkt daran: Nur 0,6 % der Stimmen reichen, um dies zu ermöglichen. Demokratie kann so toll sein ohne undemokratische Speerklauseln!

Nun steht da immer noch der Vorwurf der BDS Nähe und ich kann verstehen warum einige sich deswegen dagegen entscheiden Diem25 ihre Stimme zu geben. Yanis Varoufakis ist nicht mit antisemitischen oder antiisraelischen Haltungen aufgefallen und ich persönlich werde ihm meine Stimme geben. Ich hoffe ich werde es nicht bereuen und Diem25 wird sich klar und deutlich von BDS abgrenzen.

Bei dieser Wahl gibt es nicht die eine richtige Partei. Es gibt eine große Auswahl und es sind sogar ein paar mehr gut wählbare Alternativen. Gäbe es Diem25 nicht würde meine Wahl sehr wahrscheinlich auf die Grünen fallen, aber erstaunlich gut hat mir auch das Programm der Neuen Liberalen und von Volt gefallen. Volt hat sich aber aus ganz vielen anderen Gegebenheiten als unwählbar herausgestellt. Der Wahlkampfstunt gegen den Wahl-O-Mat und so gegen uns alle, war sehr daneben. Auch ihre postideologische Haltung finde ich schwierig. Auch besteht die Partei scheinbar hauptsächlich aus Wirtschaftswissenschaftler*innen, Unternehmensberater*innen, Anwälten*innen und vielen anderen Kindern von reichen Eltern. Ein rein privilegierter Haufen dessen Progressivität nur solange besteht, wie wir noch keinen europäischen Bundesstaat haben. Wäre dies durchgesetzt, dann würde auch Volt nur zu einer wirtschaftsliberalen europäischen FDP zusammenschrumpfen. Vielleicht liege ich mit meiner Einschätzung falsch und Volt strafft mich Lügen. Ich glaube aber nicht daran.

Fällt eure eigene Entscheidung, aber bitte geht diesen Sonntag wählen. Mehr Europa ist die Antwort. Nicht weniger : )

 

Veröffentlicht unter Deutschland, Europa, Politisch und stolz drauf! | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , | Kommentar hinterlassen

Polikick: Der Podcast über Fußball und Politik

Hi hier bin ich wieder. Jahre später und irgendwo immer noch nicht viel gescheiter. Obwohl ein wenig schon. Aber ich bin hier nicht um euch von den Veränderungen in meinem Leben zu berichten, sondern euch auf ein Projekt aufmerksam zu machen, in welchem ich nun mitwirke.

Es geht um den Polikick, ein Podcast über die Schnittmenge von Politik und Fußball. Klingt nicht nur spannend, sondern ist es auch. Es ist nicht nur für Fußballnerds hörenswert, sondern für alle Menschen die das Politische nicht nur im Bundestag verordnen.

In der ersten Folge galoppieren wir schon fast durch die verschiedenen Thematiken und wollen euch zeigen warum Fußball politisch ist und warum es politisch sein soll. Bisher sind wir in den beiden abgedrehten Folgen rein männlich besetzt, wir hoffen dies aber so schnell wie möglich zu ändern. Wenn ihr Lust habt oder jemanden kennt der*die bei uns mitmachen möchte, auch nur mal als Gast, sagt uns Bescheid.

Informationen über wer wir sind findet ihr hier.

Ein kleiner Funfact, welcher Kenner*innen wahrscheinlich schon aufgefallen ist, rekrutiert sich die bisherige Auswahl an namentlich genannten Mitpodcastern aus dem ehemaligen Treffen der Piratenpartei. Zwar hat so ein Treffen nie stattgefunden (leider), aber in diesem Internet verlieren sich solche sozial-politischen Netze nicht so leicht, obwohl die Lebensrealität und die politischen Wege sich unterschiedlich verändert haben. Aber keine Angst, wir sind alle schon Jahre entpiratisiert und euch erwarten keine Piratenwortspiel“witze“ und Nautikmetaphern, genauso sind wir auch offen für Menschen die jenseits der Piraten „sozialisiert“ wurden.

Die zweite Folge ist heute erschienen. Ihr bekommt also nicht nur eine Einführung sondern auch die erste reguläre Folge. Um keine Folge zu verpassen, könnt ihr unseren Podcast abonnieren. In der zweiten Folge haben wir uns zunächst über den letzten Spieltag unterhalten (keine Angst, der reine Fußballpart kann übersprungen werden dh. Wenn ihr kein Interesse daran habt, müsst ihr euch da nicht durchquälen.) um dann auf unser Hauptthema zu kommen: Die Macht der Fans. Welche Fanproteste sind wirksam, welche sind wünschenswert und welche negativen Folgen können diese auch haben? Wie in so einem Format üblich, finden wir keine finale Antworten  und laden selbstverständlich zu Diskussionen über unsere sozialen Kanäle ein: Facebook und Twitter.

Ich würde mich wirklich freuen, wenn ihr mal reinhören würdet. Vielleicht wird dann dieser Blog auch wieder ein wenig aktiver 🙂

 

PS: Wenn jemand von euch Lust hat unser Logo ein wenig professioneller zu gestalten, wir würden uns freuen. Selbstverständlich entgeltlich.

Veröffentlicht unter Piratenpartei, Polikick, Politisch und stolz drauf! | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , | Kommentar hinterlassen

Die Kontroverse um den Genozidbegriff in der Diskussion über den Krieg in Bosnien und Herzegowina 1992-1995

Bachelorarbeit im Studiengang Politikwissenschaft (B.A.)

Universität Regensburg, Gutachter: Prof. Dr. phil. habil. Jerzy Maćków

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung.
  2. Bosnienkrieg 1992 bis 1995: Hintergrund, Ursache und Verlauf.
  3. Diskussionen.

3.1.       Diskussion 1: Was ist Genozid?

3.1.1.        Raphael Lemkin.

3.1.2.        UN – Konvention.

3.2.       Diskussion 2: Ist Genozid der richtige Begriff?.

3.2.1.        Verfälschung der unterschiedlichen Diskursebenen.

3.2.2.        Kritik an Lemkin und Konkurrenzansätze.

  1. Kann von einem Genozid gesprochen werden?

4.1.       Lemkins Dimensionen.

4.1.1. Politische Dimension.

4.1.2. Soziale Dimension.

4.1.3. Wirtschaftliche Dimension.

4.1.4. Biologische Dimension.

4.1.5. Physische Dimension.

4.1.6. Religiöse Dimension.

4.1.7. Moralische Dimension.

4.2.       Absicht, Plan und Genozid.

  1. Ergebnis und Fazit.

Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

 

 

 

1.   Einleitung

Nach dem zweiten Weltkrieg und den Verbrechen Deutschlands und seiner Verbündeten an Europa und im speziellen an den Juden*Jüdinnen Europas, dachten viele, dass es zu so etwas nicht mehr kommen würde. Denn über die Grenzen der Weltpolitik, am Anfang des kalten Krieges, konnten sich die Staaten auf ein Völkerrecht einigen. Ein Völkerrecht welches unter anderem ein Verbrechen beinhaltet, welches überall auf der Welt geächtet und verfolgt und damit verhindert werden sollte, den Genozid. Der Mensch lernt nur sehr wenig aus der Geschichte. So kam es nach dem Ende des kalten Krieges, als in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten der Totalitarismus und die „kommunistische“ Staatsdoktrin zusammenbrachen, zu einem neuen Krieg in Europa.

Nicht in den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts, sondern im sozialistischen Gegenmodell, dem blockfreien Jugoslawien. Die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen, einst vereint durch Josip Broz Tito und der kommunistischen Ideologie, verfolgten verschiedene Ziele. Die Konsequenz war der Zerfall in mehrere Einzelstaaten. Doch anders als in der Sowjetunion und ihren Nachfolgerstaaten lief dieser Prozess nicht friedlich ab. Mehre Kriege begleiteten den Prozess und die Weltgemeinschaft war kaum in der Lage dies einzudämmen. Besonders im Krieg in Bosnien-Herzegowina deutlich das internationale Unvermögen deutlich. Unter den Augen der United Nation (UN) kam es zu Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Um die Verbrechen in ganz Jugoslawien aufzuklären wurde das „International Criminal Tribunal for the former Yugoslavua“( Dort wird die juristische Aufarbeitung der einzelnen Verbrechen durchgeführt. Täter wurden gesucht, angeklagt und verurteilt.

Der Bosnienkrieg wird von den ICTY als blutigster aller Kriege im zerfallenden Jugoslawien bezeichnet.[1] Die juristische Aufklärung ist dadurch sehr langwierig und immer noch nicht abgeschlossen. Der aktuellste Fall des ICTY ist die Anklage gegen Ratko Mladić, den Oberbefehlshaber der serbischen Truppen im Bosnienkrieg, der unter anderem wegen Genozid angeklagt ist. Genozid gegen die Bevölkerungsmehrheit Bosnien-Herzegowinas, die bosnischen Muslime*innen.  Ein Urteil wird 2017 erwartet.[2] In der Anklage geht es nur um juristische Aufarbeitung der individuelle Rolle Mladićs in den Verbrechen des Bosnienkrieges. Unabhängig von seiner Verurteilung stellt sich die Frage, ob überhaupt ein Genozid im Bosnienkrieg an den bosnischen Muslimen*innen stattfand. Die Definition von Genozid, auf welche sich bei der Beantwortung dieser Frage, auch in den Anklagen der ICTY, berufen wird, ist die aus der Genozid-Konvention. Rein rechtlich sind nur wenige Experten*innen der Meinung, dass die Aktionen gegen die bosnischen Muslime*innen als Genozid eingestuft werden können.[3]

Die rechtliche Definition der UN-Konvention ist nicht der Ursprung des Genozid-Begriffes. Raphael Lemkin erschuf diesen während des zweiten Weltkrieges und nannte den Tatbestand als erstes konkret.[4] Seit der UN-Konvention wird in der Forschung gestritten, welche nun die beste Genozid-Definition wäre und ob überhaupt ein Genozid-Begriff notwendig ist. Eine Festlegung auf eine Definition muss erfolgen, um überhaupt ein Ereignis als Genozid einordnen zu können. In dieser Arbeit wird die Notwendigkeit eines Genozid-Begriffes nachgewiesen und nach der Definition gesucht, welche aus geisteswissenschaftlicher Sicht am besten geeignet ist.

Im Aufbau der Arbeit sind mehrere deskriptive Abschnitte und Übergänge vorgesehen, unter anderem über Lemkin, die UN-Konvention und den Bosnienkrieg. Diese fallen ausführlicher aus als üblich, sie sind aber in dieser Ausführlichkeit notwendig um Zusammenhänge zu verstehen und der Argumentation folgen zu können. Im theoretischen Teil werden zwei essentielle Diskussionen geführt um zwei grundlegende Fragen beantworten zu können. Was unter dem Begriff Genozid verstanden und warum er benötigt wird. Diese Diskussionen spalten die Genozid-Forschung seit ihrem Anfang und müssen ausführlich und sorgfältig bearbeitet werden. Lemkins Definition wird sich als die Geeignetste und Genozid als der zutreffendste Begriff herausstellen. Er definiert Genozid als einen koordinierten Plan unterschiedlicher Aktionen, mit dem Ziel, essentielle Lebensgrundlagen einer Gruppe zu zerstören oder schwer zu schädigen, um die Gruppe als solche, teilweise oder ganz, zu vernichten.[5]

Es werden ausschließlich die Taten von serbischen Kräften an den bosnischen Muslimen*innen untersucht. Der Krieg, als Angriffskrieg der serbischen Kräfte gestartet, entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem Bürgerkrieg, in dem sich auch andere ethnische Gruppen Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben. Die Kriegsverbrechen der anderen Gruppen werden in der Analyse nicht behandelt. Die Forschungsfrage, welche beantwortet werden soll, setzt sich aus den Ergebnissen der Theorie-Diskussionen und den gewählten Einschränkungen wie folgt zusammen:

Wurde im Bosnienkrieg von 1992-95 an den bosnischen Muslimen*innen von den serbischen Kräften ein Genozid, nach Raphael Lemkins Definition, verübt?

Durch die Behandlung der Thematik in verschiedenen Wissenschaftsfeldern, den Forschungsstreit in der Genozid-Forschung und den leichtsinnigen Gebrauch in der Alltagssprache, müssen Begrifflichkeiten eindeutig zugeordnet werden. Im deutschsprachigen Raum wird Genozid oft als Völkermord übersetzt. Dies ist zwar ein Synonym zu Genozid, trägt aber im Wortlaut das Missverständnis mit sich, dass es sich nur um die physische Auslöschung einer Gruppe handelt. Deswegen wird in der Arbeit ausschließlich „Genozid“ verwendet. Die Nationalsozialistische Vernichtung der europäischen Juden wird mit dem israelischen Begriff Shoa bezeichnet.[6] Dies ist im jüdischen Dialog der dominanteste und damit der von der Opfergruppe selbstgewählte Begriff. Die Bezeichnung Holocaust wird in der modernen und weiteren Definition verstanden, wobei alle Genozid-Opfer des nationalsozialistisch geführten Deutschland einbezogen werden.

Lemkin ordnet die unterschiedlichen Aktionen gegen essentielle Lebensgrundlagen in unterschiedliche Kategorien ein, diese werden in der Arbeit als Dimensionen bezeichnet. Den Dimensionen werden die Ereignisse des Bosnienkrieges und die Aktionen der serbischen Kräfte zugeordnet. Es wird sich herausstellen, dass vieles was Lemkin als Teil eines Genozides beschreibt, im Bosnienkrieg nachgewiesen werden kann. Um den Genozid an den bosnischen Muslimen*innen nachzuweisen, muss die Absicht eines solchen bestätigt werden. Dies erfolgt durch Aussagen verschiedener Anführer der serbischen Kräfte.

2.   Bosnienkrieg 1992 bis 1995: Hintergrund, Ursache und Verlauf

Das sozialistische Jugoslawien wurde durch den Tod seiner großen Integrationsfigur Josip Broz Tito stark getroffen. Es war zu dieser Zeit schon wirtschaftlich angeschlagen, durch dieses Ereignis wurde die strukturelle Krise der Vielvölkernation verstärkt. In Folge wurde die sozialistische Ideologie immer schwächer und der Nationalismus in den Teilen der Republik stärker.[7] Politiker der ethnischen Gruppen instrumentalisierten die Probleme und Schwächen des Staates. Sie propagierten die Rückkehr in eine national-kollektivistische und ethnisch-exklusive Gesellschaftskonzeption.[8] Mit dem Machtantritt Slobodan Miloševićs in Serbien verstärkten sich die Bestrebungen der „Wiederauferstehung“ der serbischen Nation. Der neu entflammte serbische Ethno-Nationalismus hatte auch Einfluss auf den ethnisch sehr diversen Nachbarn, Bosnien-Herzegowina.[9]

Bosnien-Herzegowina ist der Grenzraum zweier Weltregionen, dem Christentum und dem Islam, und die Schnittstelle zwischen der christlichen Ost- und Westkirche.[10] Es war über 400 Jahre Grenzregion des Osmanischen Reiches, danach 40 Jahre Peripherie Österreich-Ungarns und ab dem ersten Weltkrieg Zentrum des ersten und des zweiten Jugoslawischen Staates. Zwischen den Bevölkerungsgruppen kam es immer wieder zu Integrationsproblemen.[11] Während der osmanischen Herrschaft gab es zwischen den verschiedenen Gruppen strukturelle Unterdrückung und keine soziale und politische Gleichberechtigung.[12] Nach dem ersten Weltkrieg war der Grundbesitz hauptsächlich in muslimischer Hand, welche der Staat enteignete und unzureichend entschädigte. Das Land ging hauptsächlich an bosnisch-serbische Familien und serbische Freiwillige des Krieges.[13] Die bosnischen Muslime*innen wurden von den anderen Gruppen nur als Religionsgemeinschaft angesehen.[14] Aus der Ethnologie heraus wären fast alle Bewohner Bosnien-Herzegowinas slawisch und nur durch die Geschichte unterschiedlichen Kulturkreisen ausgesetzt.[15] Ein Teil der bosnischen Bevölkerung trat während der osmanischen Herrschaft zum Islam über, unter anderem um Privilegien zu genießen.[16] Im ersten Jugoslawiens verfolgte die serbische Führung den Traum von Großserbien, welches am kroatischen Widerstand scheiterte. Die erhöhten Spannungen zwischen serbischen und kroatischen Interessen wurden hauptsächlich in Bosnien-Herzegowina ausgetragen. Die bosnischen Muslime*innen, sahen sich weder kroatisch noch serbisch.[17] Die Bezeichnung „Bosniake“ ist mehrdeutig. Es wurde von der österreichisch-ungarischen Verwaltung für alle Einwohner Bosniens genutzt, wurde später auch die Fremdbezeichnung der Gruppe der bosnischen Muslime*innen.[18] Die beiden anderen Gruppen werden nicht nach ihrer Religion, welches der größte Unterschied der Gruppen ist, benannt. Es wird also nicht von orthodoxen oder katholischen Bosniern*innen gesprochen. Hier ist der starke Einfluss des Nationalismus der Nachbarstaaten deutlich bemerkbar. Die bosnischen Muslime, hingegen hatten keine „Mutternation“ an der sie sich orientieren konnten. Die Religion ist dadurch das prägendste Merkmal der Gruppe. In dieser Arbeit wird deswegen von serbischen, kroatischen und muslimischen Bosniern*innen gesprochen bzw. von bosnischen Serben*innen, Kroaten*innen und Muslimen*innen.

Der Zerfall Jugoslawiens beschleunigte sich und die wirtschaftliche Krise wurde auch bei den einfachen Menschen deutlicher. Die aufkommende Unsicherheit war verknüpft mit der Suche nach einfachen Lösungen. Die nationalistischen, ehemals sozialistischen, Eliten nutzten dies aus um politische Kontrolle über die Republiken zu erlangen.[19] Es kam zu einem Streit um das Erbe Jugoslawiens. Für die serbischen Eliten gab es nur zwei Lösungen: Einen Einheitsstaat mit serbischer Dominanz oder ein exklusives Großserbien, in dem alle serbischen Siedlungsgebiete vereint wären. Die Bevölkerung Jugoslawiens war sehr durchmischt und es gab im ganzen Territorium kaum ethnisch „eindeutig“ besiedelte Gebiete. [20] Ein unabhängiges Kroatien, inklusive der serbisch besiedelten Teile, war für die serbische Führung nicht hinnehmbar. Slowenien erklärte die Unabhängigkeit am 22. Dezember 1990 und Kroatien am 29. April 1991. Die Jugoslawische Volksarmee (JVA) intervenierte in Slowenien. Nach kurzen Gefechten zog sie sich aus dem ethnisch homogensten Teil Ex-Jugoslawiens zurück und griff den westlichen Teil Kroatiens an. Dort lebten um die 50 % serbische Kroaten*innen. Die JVA und ihre Verbündeten eroberten die Gebiete Krajina und Slawonien.[21]

In Bosnien-Herzegowina herrschten die gleichen Verhältnisse, nur im kleineren Maßstab. Bei einer Volkszählung im Jahre 1991 bezeichneten sich von den 4,37 Millionen Einwohnern 43,5 % als muslimisch, 31,2 % als serbisch, 17,4 % als kroatisch und 5,5 % als jugoslawisch. Die restlichen 2,4 % zählten sich zu einer von 20 weiteren ethnischen und religiösen Gruppen Bosnien-Herzegowinas.[22] Die Gruppen lebten über die gesamte Fläche Bosnien-Herzegowinas verteilt in einem unentwirrbaren ethnischen Puzzle, wobei der Großteil der muslimischen Bevölkerung in den städtischen Regionen lebte und die kroatische und serbische Bevölkerung mehr ländlich. Bosnien-Herzegowina hatte keine ethnisch eindeutigen Siedlungsgebiete und eine sehr hohe Anzahl von Ehen innerhalb der Bevölkerungsgruppen. Die Menschen organisierten sich multiethnisch und multireligiös.[24] Nach dem Zerfall Jugoslawiens identifizierte und organisierte sich die Bevölkerung wieder stärker auf Basis ihrer religiösen und ethnischen Identitäten.[25] Die bosnischen Kroaten*innen und Serben*innen wurden hauptsächlich durch die Nachbarstaaten ethno-nationalisiert. Dieser äußerliche Druck ließ auch das Zusammenhörigkeitsgefühl und den „Nationalismus“ der bosnisch-muslimischen Bevölkerung als eine Art Abwehrreaktion erstarken. Das führte 1990 zu den Gründungen ethno-nationalistischer Parteien. Am 27. März gründete sich die muslimisch dominierte „Partei der demokratischen Aktion“ (SDA). Sie forderte ein ethnisch durchmischtes und unabhängiges Bosnien-Herzegowina. Im Juli gleichen Jahres folgte die Gründung der „Serbische[n] Demokratische[n] Partei“ (SDS), welche sich an Serbien und Milošević orientierte. Als letzte folgte die „Kroatische Demokratische Gemeinschaft“ (HDZ), welche eine Ablegerpartei der HDZ in Kroatien war.[26] In den ersten freien Wahlen wurden die drei so stark, dass keine funktionierende Regierung ohne jeweils die anderen gebildet werden konnte. Die gemeinsame Regierung scheiterte am 14. Oktober 1991 durch die SDS am Streitthema Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas.[27] Es kam zu einer Volksbefragung bei den die muslimischen und kroatischen Bosnier*innen mehrheitlich für die Unabhängigkeit gestimmt hatten. Die serbischen Bosnier*innen boykottierten zum großen Teil die Volksbefragung.[28] Das Ergebnis akzeptierte die SDS nicht und gründeten eine serbisch autonome Republik.  Der serbische Angriff startete vor der Anerkennung der Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas durch die Europäische Gemeinschaft am 7. April 1992. Die serbischen Kräfte griffen mit der JVA Ostbosnien an und eroberten das ganze Grenzgebiet zu Serbien in kürzester Zeit.[29]

Das militärische Kräfteverhältnis der ethnischen Gruppen Bosnien-Herzegowinas war sehr ungleich. Die bosnisch-serbische Armee war die stärkste, da sie von den Strukturen und Ausrüstung der JVA profitierte.[30] Die Volksarmee sollte alle ethnische Gruppen Jugoslawiens abbilden, aber die serbische Nationalität überwog. Besonders der Offizierskorps war serbisch dominiert. Nach dem Zusammenbruch wurde die JVA zum Instrument der serbischen Nationalisten. Die Truppen der JVA machten den größten Teil der serbischen Kräfte aus, die Bosnien-Herzegowina angriffen. Auch ihre Führungsstruktur hatte das Oberkommando über die angreifenden Truppen.[31] Die internationale Gemeinschaft reagierte darauf und erhöhten den Druck auf Serbien. Dies führte zum offiziellen Rückzug der JVA, was aber kaum etwas veränderte. Alle bosnisch-serbischen Einheiten wurden in Bosnien-Herzegowina stationiert und alle anderen ethnischen Truppen abgezogen. Die Führung in Belgrad untersagte den bosnisch-serbischen JVA-Soldaten nicht den Kampf, es erlaubte ihn sogar ausdrücklich. Die JVA war auch nachdem offiziellen Rückzug immer noch Teil des Krieges.[32] Die serbischen Kräfte bestanden auch aus Paramilitärs. Die JVA rekrutierte serbische Paramilitärs aus Serbien, Montenegro und nicht bosnisch-serbisch dominierten Gebieten von Bosnien-Herzegowina. Die meisten dieser Gruppen waren unter der Kontrolle der JVA und alle kooperierten mit dieser.[33] Die SDS lieferte mit Hilfe ihrer geschaffenen Polizei und Teilen der Zivilbevölkerung der JVA, der bosnisch-serbischen Armee und den Paramilitärs logistische Vorarbeit. Sie informierten über Landschaft, Gegebenheiten in den Zielortschaften und den Strukturen der anderen Gruppen.[34] Die Unterstützung durch Serbien existierte nicht nur über die JVA. Das Milošević-Regime rüstete die bosnisch-serbischen Kräfte schon vor dem Ausbruch des Krieges auf.[35] Der „offizielle“ Bruch zwischen Serbien und der serbischen Republik erfolgte erst im Juli 1994, als die bosnischen-serbische Führung einen Friedensplan ablehnten.[36] Die wirkliche politische Zusammenarbeit zwischen Serbien und der serbischen Republik löste sich nicht. Milošević war 1995 der offizielle Vertreter der bosnischen-serbischen Kräfte im Friedensabkommen von Dayton.[37] Wenn in dieser Arbeit von serbischen Kräften gesprochen wird, ist das Bündnis, oder Teile dessen, von JVA, bosnisch-serbischer Armee, paramilitärischen Gruppen, SDS und Teilen der zivil Bevölkerung gemeint. Durch personelle und organisatorische Überschneidungen der einzelnen Bündnispartner, ist es oft schwierig, meistens sogar unmöglich, Taten und Aktionen bestimmten Gruppierungen der serbischen Kräfte zuzuordnen.

Vom April bis Juni 1992 eroberten die serbischen Verbände Ostbosnien und den nördlichen Korridor zu Westbosnien, sowie das östliche Herzegowina. Sie besetzten damit um die 70 % des gesamten bosnischen Territoriums. Zunächst kämpften die bosnisch-muslimischen und bosnisch-kroatischen Kräfte zusammen gegen den Aggressor. [38] Innerhalb Kroatien gab es eine Strömung welche die bosnisch-kroatischen Teile an Kroatien anschließen wollte. Sie bekam in der bosnisch-kroatischen HDZ mehr Einfluss und so kam es 1993 zum Kampf zwischen bosnisch-kroatischen und bosnisch-muslimischen Truppen. Eine zusätzliche Front wurde geöffnet.[39] Erst am 15 März 1994 kam es zum Ende des innerbosnischen Krieges zwischen kroatischen und muslimischen Truppen. In einem Abkommen wurde sich auf die Bildung einer kroatisch-muslimischen Föderation geeinigt. Dies war ein schwacher Kompromiss, beendete aber die zweite Front. Die neue Föderation sollte 58 % des ehemaligen Territorium Bosniens-Herzegowinas ausmachen. Dies bedeutete, dass serbische Kräfte den Korridor verlieren würden, welcher das serbische Bosnien, Serbien und das serbisch kontrollierte Krajina verband. Die serbischen Angriffe verstärkten sich nach dem Schulterschluss.[40] Die serbischen Kräfte konnten in ihrer ersten Offensive nicht alle Städte einnehmen und so bildeten sich bosnisch-muslimische Enklaven im bosnisch-serbisch kontrolliertem Gebiet. Diese wurde immer wieder Ziel gewaltiger Angriffe von serbischer Seite und so wurde im April 1993 durch den UN Sicherheitsrates die Stadt Srebrenica und ihre Umgebung zur ersten UN-Sicherheitszone. Kurz darauf folgten weitere. Das Konzept der Sicherheitszonen beinhaltete die Entmilitarisierung der Zone, um einen Schutz der Zivilbevölkerung durch die UN zu gewährleisten. Dafür wurde den UN-Blauhelmen die Möglichkeit der Gewaltanwendung zur Verteidigung der Sicherheitszonen eingeräumt. Die militärischen Kräfte der UN waren aber nicht stark genug, um die Enklaven zu schützen. Von geplanten 36 000 Mann, konnten nur 7600 aufgebracht werden, weil sich einige Mitgliedsländer weigerten, Truppen zu entsenden.[41]

Anfang 1995 bereiteten die serbischen Truppen unter General Ratko Mladić die Eroberung der bosnisch-muslimischen Enklaven vor.[42] In Srebrenica waren zum Schutz der Bevölkerung niederländische UN-Blauhelme mit einem unklar definierten Auftrag stationiert. Sie sollten als neutrale Friedenstruppen agieren, welche, wenn nötig, Partei ergreifen, wenn die bosnisch-serbischen Truppen die Enklave angreifen.[43] Den niederländischen Soldaten ist es, durch das unklare Mandat, Ausbildungsmangel, schlechte Ausrüstung, zu wenig Personal, der kaum vorhandenen internationalen Zusammenarbeit und der unklaren Lage, nicht möglich gewesen die Enklave zu verteidigen.[44] Am 6 Juli startete der Angriff der serbischen Kräfte auf Srebrenica. Am 8. und 9. Juli nahmen die bosnisch-serbischen Truppen einige der UN-Beobachtungsposten ein, vertrieben die niederländischen Soldaten und nahmen dabei einige gefangen.[45] Im Laufe des 11. Juli nahmen die serbischen Streitkräfte die erste UN-Sicherheitszone ein. Um 14:30 war die Stadt Srebrenica in serbischer Hand.[46] In den folgenden Tagen kam es zu der gezielten Ermordung von bis zu 8000 bosnisch-muslimischen Männern und Jungen. Der internationale Gerichtshof ordnete dieses Verbrechen 2007 als Genozid ein.[47]

Nach Srebrenica handelten die westlichen Regierungen. Frankreich und Großbritannien stellten eine schnelle Eingreiftruppe zusammen und die NATO bombardierte serbische Positionen.[48] Die große Wendung kam durch die gemeinsame Offensive der bosnischen und der kroatischen Armee im Juli 95. Zunächst erfolgte die Einnahme der „Serbischen Republik Krajina“ durch die kroatische Armee und danach eine Großoffensive gegen die serbisch kontrollierten Gebiete in Bosnien-Herzegowina. Die bosnisch-serbische Armee war immer noch sehr stark, aber durch die Veränderungen kam es zu einem Gleichgewicht der Konfliktparteien. Dies war förderlich für die Beendigung des Krieges.[49] Durch das Abkommen von Dayton, welches am 14. Dezember 1995 unterschrieben wurde, konnte der bewaffnete Konflikt beendet werden. Bosnien-Herzegowina sollte in seinen Grenzen von 1992 als föderaler Staat mit zwei Teilen, einen kroatisch-muslimischen mit 51 % des Territoriums, und einen serbischen mit 49 % des Territoriums, fortbestehen. Das Abkommen zementierte die Vorstellungen des Ethno-Nationalismus und die Spaltung Bosnien-Herzegowinas.[50] Das ehemals multiethnisch durchmischte Land wurde durch den Krieg zu einem Land mit ethnischen Ballungszentren und ethnisch homogenen Republiken.[51]

3.   Diskussionen

Im theoretischen Teil dieser Arbeit müssen zwei verschiedene Diskussionen der Genozid-Forschung behandelt werden. Sie können jeweils mit einer Frage umschrieben werden. Die erste Diskussion dreht sich um die Frage „Was ist Genozid?“. In diesem Unterkapitel soll geklärt werden, wie Genozid definiert werden kann. Wichtig dabei ist eine etymologische Herangehensweise, da die Entstehungsgeschichte großen Einfluss auf Inhalt, Wirkungskraft und letztendlich auch auf eine kritische Sichtweise des Genozid-Begriffs hat. Die Kritik an dem Begriff wird im Kapitel der zweiten Diskussion behandelt, welche mit der Frage „Ist Genozid der richtige Begriff?“ beschrieben werden kann. Kritik am Genozid-Begriff ist untrennbar mit seiner Entstehungsgeschichte und der Definition verbunden. Die Frage warum der Genozid-Begriff überhaupt benötigt wird, kann ohne konkrete Definition nicht beantwortet werden.

3.1.        Diskussion 1: Was ist Genozid?

Im dem ersten Unterkapitel des theoretischen Teils wird die Geschichte hinter dem Begriff beleuchtet. Dafür wird die Biographie Raphael Lemkins, des Erfinders des Genozid-Begriffes, im Zusammenhang seines Werkes dargestellt. Dies ist notwendig um die Kritik an seiner Person, aber auch die Wirkungskraft seines Werkes nachvollziehen zu können.  Seine Genozid-Definition, welche er in einem Kapitel seines Buches „Axis Rule in Occupied Europe“ niedergeschrieben hat, wird dargestellt. Lemkins Einfluss auf die UN-Genozid-Konvention und der Inhalt dieser werden im zweiten Teil des Unterkapitels behandelt und mit der Ablehnung der Konvention als Analysewerkzeug beendet.

3.1.1.   Raphael Lemkin

Raphael Lemkin war ein polnisch-jüdischer Jurist, der 1900 im russischen Kaiserreich geboren wurde und 1959 in New York City starb. Seine nationale und ethnische Zugehörigkeit sind relevant, da beides wichtige Teile seiner Identität waren[52] und er zwei durch den Holocaust betroffenen Gruppen angehörte. Von seiner Familie fielen 49 Personen der Shoa zum Opfer.[53] Lemkin widmete – aus Dankbarkeit gegenüber seiner Familie – sein ganzes Leben der Benennung und Verrechtlichung dieses Verbrechens.[54] Sein Lebenswerk verschwand im Laufe des kalten Krieges aus der öffentlichen Diskussion, Lemkin wurde „vergessen“. Erst mit den internationalen Ad-hoc Gerichten zu Ruanda und dem ehemaligen Jugoslawien, wurde Lemkin wieder Teil der öffentlichen Wahrnehmung: Als Erschaffer des Begriffes Genozid und wichtigster Einfluss auf die UN-Genozid-Konvention von 1948.[55] Die selbsternannten Pioniere der Genozid-Forschung der 80er und 90er Jahre erkannten Lemkin als Schöpfer des Begriffes an, setzten sich aber kaum bis gar nicht systematisch mit seiner Theorie auseinander. Oft wurde er von seinen Unterstützern und seinen Kritikern missverstanden.[56] Wie er seinen Genozid-Begriff entwickelte, die Hintergründe, wie auch der Inhalt seines berühmten Werkes „Axis Rule in Occupied Europe“ (1944) und sein Einfluss auf die UN-Genozid-Konvention wird in diesem Unterkapitel behandelt.

3.1.1.1.            Hintergrundgeschichte

Lemkin selbst datierte seine ersten Überlegungen über Genozid weit vor den zweiten Weltkrieg.[57] Er arbeitete als Dozent der Vergleichenden Rechtswissenschaft an der Freien Universität Polen und war Vertreter des Staatsanwaltes im Gebiet Warschau. Dabei kam er in Kontakt mit der „Polish Comission for International Juridical Cooperation“, welche großen Einfluss auf sein Denken hatte. Ihr Konzept eines internationalen Rechts, aufbauend auf dem Prinzip des Weltrechts, also die Verfolgung von Straftaten, die nichts mit dem „eigenen“ Staat zu tun haben, beeinflusste und überzeugte den jungen Juristen.[58] 1933 wurde Lemkin Teil einer Kommission, welche bei der 5. Internationalen Konferenz für die Vereinheitlichung des Strafrechts in Madrid teilnahm. Dort versuchte er vergeblich die „Akte der Barbarei“, Verbrechen aller Art gegen ethnische, religiöse oder soziale Gruppen, und „Akte des Vandalismus“, die systematische Zerstörung des kulturellen Erbes einer Gruppe, auf die Agenda der Konferenz zu setzen.[59] Beide Theorien wurden später Teil seiner Genozid-Definition.

Der historische Ursprung seiner Grundüberlegungen war der Genozid an den Armeniern und die Tatsache, dass die Täter in ihrem Exil nicht strafrechtlich verfolgt werden konnten.[60] Lemkin konnte nicht ahnen, dass er und seine Familie selbst Opfer eines Genozids werden würden, aber zweifellos beeinflusste der Zweite Weltkrieg mit dem Holocaust und insbesondere die Shoa seine finale Konzeption. Als Opfer und Beobachter dieser Verbrechen kam er zum Schluss, dass es sich hierbei um etwas in der zivilisierten Welt Neuem handelte, das bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau definiert und benannt worden war.[61] Ihm war wichtig zu verdeutlichen, dass Vernichtungskriege schon seit Anbeginn der überlieferten Menschheitsgeschichte existierten. Die Entwicklung ging vom Krieg gegen die Bevölkerung hin zum Krieg gegen Staaten. Dass zivilisierte, „moderne“ Gesellschaften diesen Schritt zurück machten, war für ihn hingegen ein komplett neues Phänomen.[62] Neue Erscheinungen benötigten für Lemkin neue Begriffe.[63] Diese helfen Menschen Ereignisse zu erfassen, verarbeiten, einzuordnen und ihr Handeln daran anzupassen.[64] Er war davon überzeugt, dass Gesetze und Sprache die Realität verändern und bestimmte Worte moralische Urteile erst ermöglichen und somit ein gesellschaftliches Bedürfnis erfüllen. Ein Begriff würde helfen dieses Verbrechen zu verfolgen und somit Genozid zu verhindern.[65]

Über Litauen und Stockholm geflohen, lebte Lemkin ab 1941 in den USA im Exil. Er arbeitete dort als akademischer und politischer Berater und plante seine gesammelten Informationen über den deutschen Imperialismus zu veröffentlichen. Diese erschienen im November 1944 in dem Werk „Axis Rule in Occupied Europe“, welches 1943 vollendet wurde.[66] Das Werk war zu zwei Dritteln eine Dokumentation über Gesetze und Erlasse der Achsenmächte und zu einem Drittel eine Analyse der politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft.[67] Nur eines der 26 Kapitel handelte von dem Begriff „Genozid“. Das Buch war eine Analyse über die Besatzung durch Deutschland, wobei „Genozid“ verstanden wurde als ein neues Werkzeug der Besatzung .[68]

3.1.1.2.            Lemkins Genozid-Begriff

Neue Ereignisse brauchen neue Begriffe. Den Begriff, welcher dies alles beschreiben sollte, setzte er aus dem altgriechischen „genos“, was in etwa Rasse oder Stamm bedeutet, und dem lateinischen „cide“, welches als „töten“ übersetzt werden kann, zusammen.[69] Genozid. Nicht die unmittelbare Vernichtung einer Gruppe, sondern ein koordinierter Plan unterschiedlicher Aktionen mit dem Ziel essentielle Lebensgrundlagen einer Gruppe zu zerstören oder schwer zu schädigen, um die Gruppe als solche teilweise oder ganz zu vernichten.[70]

Wichtig ist, dass bei Lemkin die Gruppe im Vordergrund steht. Ein Genozid richtet sich gegen Gruppen als Einheit. Die einzelnen Aktionen jedoch wenden sich gegen Individuen, weil sie Teil der Gruppe sind.[71]

Zuerst wird das vorhandene „nationale“ Gebilde der Gruppe zerstört und dann das eigene „nationale“ Gebilde durchgesetzt. Dies kann sehr unterschiedlich ablaufen. Entweder wird die Gruppe komplett aus dem Gebiet entfernt oder den Individuen der zerstörten Gruppe wird ein neues nationales Gebilde aufgezwungen.[72] Hier wird deutlich, dass es sich nicht um die rein physische Auslöschung der Individuen einer Gruppe handeln muss, sondern es primär um die Zerstörung der Gruppe geht. Genozid ist trotzdem mehr als nur eine reine Denationalisierung, es ist die Antithese zu der Vorstellung, dass Kriege nur zwischen Staaten (Souveränen) und Armeen stattfinden. Der Genozid ist ein totaler Krieg, in dem das Konzept des Staates ein biologisches Element beinhaltet. Es ist ein Krieg nicht gegen Staat und Armee, sondern ein Krieg gegen die Bevölkerung.[73]

Das Ziel ist es, die Bevölkerungsstruktur eines bestimmten Gebietes zu verändern. Dabei ist die Aneignung von Boden wichtiger als die von Individuen. Der Genozid soll die andere Gruppe so schwächen, oder sogar zerstören, dass die Täter-Gruppe, auch wenn sie den Krieg verliert, auf mittel- und langfristige Sicht davon profitiert. Ein Genozid wird verübt um im Frieden zu gewinnen, auch wenn der Krieg verloren geht. So etwas kann nur mit Hilfe eines vorbereiteten Planes erreicht werden.[74]

Der Plan muss, wie in der Definition schon genannt, Aktionen beinhalten, welche unterschiedliche Teile der Gruppe angreifen und somit beschädigen oder zerstören. Lemkin stellt durch die Analyse der Politik der Achsenmächte sieben verschiedene Dimensionen des Lebens einer Gruppe fest, welche Ziel dieser Aktionen sein können: (1) Die politische Dimension, (2) die soziale Dimension, (3) die wirtschaftliche Dimension, (4) die biologische Dimension, (5) die physische Dimension, (6) die religiöse Dimension und die (7) moralische Dimension.[75]

In der politischen Dimension sind die Ziele unter anderem die Zerstörung von lokalen Institutionen und Selbstverwaltungen der anvisierten Gruppen. Auch sollen alle öffentlichen Zeichen der Gruppe wie Straßennamen, Gebäudeinschriften und sogar Werbetafeln beseitigt werden. Wenn in einem Gebiet schon Angehörige der Täter-Gruppe existieren, nehmen sie eine besondere Rolle ein. In dieser Dimension wird der Boden mit Hilfe dieser Angehörigen oder durch Ansiedlung offiziell „neu“ nationalisiert, also der Täter-Gruppe angepasst. Politische Parteien, auch die der Angehörigen der eigenen Gruppe, welche nicht die Aktionen der Täter unterstützen, werden verboten. Es ist ein System der Kolonialisierung. Die Entfernung der „alten“ Bevölkerung und die Ansiedlung der „eigenen“ Leute.[76]

Die soziale Dimension ist eng mit der Politischen verbunden. Hier wird versucht die soziale Struktur der Gruppe zu schädigen. Dies kann unterschiedlich erreicht werden. Zumeist wird gegen die Elite vorgegangen. Die politischen, gesellschaftlichen, religiösen und wissenschaftlichen Anführer*innen werden getötet, vertrieben und eingesperrt um die Gruppe Führungslos zu machen. Mit der Aufhebung von Gesetzen und der Auflösung der Gerichte kann das Ziel-Gruppe erheblich geschwächt werden. Selbst die Änderung der Amtssprache hat schwerwiegende Auswirkungen. Betroffene können sich schwieriger bis gar nicht mehr vor Gericht verteidigen oder haben Schwierigkeiten beim Beantragen von offiziellen Dokumenten. Ebenso schwerwiegend ist das Verbot der Sprache der Opfer in der Lehre und der Wissenschaft. Dies passiert meistens mit der Einführung der Täter-Doktrin und dem Umbau des Bildungssystems. Der Zugang zu einigen Bildungsrichtungen, hauptsächlich den freien und „liberaleren“, werden den Individuen der Opfer-Gruppe verboten. Es wird versucht den Aufbau eines kollektiven Geistes und das Erschaffen einer eigenen Kultur zu unterbinden. Durch die Zerstörung von Monumenten, Büchereien, Archiven, Museen, Galerien etc.  wird der Zugang zu schon bestehender Kultur verhindert.[77]

Um die Entwicklung einer Gruppe zu unterbinden, wird in der wirtschaftlichen Dimension ihre wirtschaftliche Grundlage zerstört. Es kann zu einer Rückentwicklung kommen, indem der Lebensstandard soweit gesenkt wird, dass dem kulturellen und spirituellen Leben nicht mehr nachgegangen werden kann. Durch den Entzug des Elementarsten, was ein Mensch zum Existieren benötigt, wird der tägliche Kampf ums Überleben so verschärft, dass bei den Individuen kritisches und analytisches Denken verhindert wird. Die wirtschaftliche Struktur muss nicht physisch zerstört werden, oft ist eine Enteignung mit einer Bereicherung von Mitgliedern der Täter-Gruppe wirkungsvoller. Nicht nur die Opfer-Gruppe, sondern auch deren Unterstützer werden benachteiligt. Als Unterstützer gelten oft Menschen, welche nicht von den Enteignungen profitieren wollen. Der Handel wird durch Lizenzen geregelt, welche Mitglieder des Opfer-Gruppe, kaum oder gar nicht erwerben können. Neue Einnahmen werden damit verhindert bzw. erschwert. Bestehendes Vermögen wird durch die Übernahme von Banken den Opfern weggenommen und der Zugriff auf Kredite für diese unmöglich. Soziale Transfers und Subventionen durch einen Staat an Mitglieder des Opfer-Gruppe werden eingestellt.[78]

Innerhalb der biologischen Dimension wird die Entvölkerung der Opfer-Gruppe vorangetrieben. Dies erfolgt ausschließlich mit der Regulierung der Geburtenrate. Die Geburtenrate der Opfer-Gruppe wird verringert und die der „eigenen“ Gruppe erhöht. Das Ziel kann unterschiedlich erreicht werden. Mit dem Verbot von sogenannten „Mischehen“, die Heirat innerhalb verschiedener Gruppen, ist ein sehr kleiner Schritt, welcher oft noch keine großen Einbrüche der Geburtenrate verursacht. Das primäre Ziel solcher Maßnahmen ist die Trennung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und damit eine Entsolidarisierung mit der Opfer-Gruppe. Im weiteren Verlauf kommt es oft zur Annullierung oder Kriminalisierung schon bestehender „Mischehen“. Die einfachste und direkteste Weise die Geburtenrate zu senken, ist die Trennung von biologischen Männern und biologischen Frauen. Ein indirekteres Vorgehen ist eine strikte Rationierung der Lebensmittel und damit eine bewusst geförderte Unterernährung. Die Konsequenzen sind geringere Geburtenraten und geringere Überlebenschancen von Säuglingen und Kleinkindern.[79]

Die mit dem Wort Genozid hauptsächlich verknüpften Massentötungen finden sich in der Physischen Dimension. In dieser ist die physische Entkräftung der Gruppe das Ziel. Das passiert durch mehrere mögliche Aktionen, wobei meistens alle angewendet werden. (1) Die Diskriminierung in der Nahrungsverteilung, bzw. das bewusste Vorenthalten von Nahrung. Mitglied in der falschen Gruppe zu sein, bedeutet kein oder kaum Essen, wodurch die Sterberate der Opfer-Gruppe steigt. (2) Gefährdung der Gesundheit durch das Zurückhalten von  Medizin, warmer Kleidung und Brennmaterial im Winter, frischem Wasser oder von ausreichenden Unterkünften und Transportmitteln. Die Konsequenz, im Zusammenspiel mit der Unterernährung, ist die Ausbreitung von Krankheiten. (3) Die Aktionen die am deutlichsten in die physische Dimension eingeordnet werden kann sind Massentötungen. Diese sind nicht nur organisatorisch am aufwendigsten und sehr kostspielig, sie erzeugen auch die größte internationale Aufmerksamkeit. Deswegen werden sie selten an allen Individuen der Gruppe durchgeführt und zielen nur auf bestimmte Bevölkerungsteile, wie zum Beispiel auf die Elite, erwachsene Männer oder Aufständische.[80]

Ist die Ziel-Gruppe einer anderen Religion oder Konfession angehörig, wird diese in der religiösen Dimension angegriffen. Dadurch wird versucht die religiöse Identität der Gruppe zu zerstören. Mögliche Aktionen sind die Enteignung von religiösen Besitztümern, wie Gebäuden, Vermögen oder Grundstücken, und die Zerstörung von Kultstätten, religiös wichtigen Orten und Gebäuden. Die Absetzung der religiösen Führung, schwächt die Ziel-Gruppe. Mit dem Einsetzen einer mit der Täter-Gruppe kooperierenden religiösen Führung kann die Ziel-Gruppe sogar mittel- und langfristig besser kontrolliert werden. Dafür ist eine sehr frühe Indoktrination der Kinder notwendig, welche auch den Zwang zum Religionswechsel oder -aufgabe vereinfacht.[81]

In der moralischen Dimension wird durch Aktionen das moralische Gefüge, mit dem Ziel des Erschaffens einer ‚Atmosphäre ohne Moral‘, außer Kraft gesetzt. Individuen sollen sich nur noch um ihr eigenes Vergnügen kümmern und nicht mehr sich mit moralischen Fragen oder kritischen Denken beschäftigen. Alkohol oder andere Drogen werden leicht erreichbar gemacht, genauso wie Pornografie, Prostitution oder auch Glücksspiel.[82]

In Lemkins Unterteilung wird deutlich das unterschiedliche Aktionen auf unterschiedliche Dimensionen gleichzeitig wirken können. Genozid wird kaum immer in all seinen möglichen Ausprägungen auftreten, dies erkannte auch Lemkin.[83] Um Genozid zu begreifen und zu verfolgen, kann es nur als etwas Einheitliches betrachtet werden. Es ist zu einschneidend und zu wichtig um die einzelnen Taten, Stück für Stück, unabhängig zueinander zu bearbeiten.[84]

3.1.2.   UN – Konvention

Die anhand der analysierten Politik der Achsenmächte entstandene Genozid-Definition, wurde benötigt um deren Politik überhaupt benennen zu können. Dies war aber nur ein Teil der Aufgabe, die sich Lemkin selbst stellte. Er benötigte den Begriff auch um Deutschland für seine Taten anklagen zu können und um einen internationalen Gesetzesrahmen zu entwickeln, damit solche Taten in Zukunft verhindert werden.

Er beschrieb beide Pläne in „Axis Rule in Occupied Europe“. Für ihn musste die internationale Gemeinschaft nach den Erkenntnissen aus dem zweiten Weltkrieg handeln.[85] Minderheiten existieren überall und sind ein wichtiger Teil der Weltgemeinschaft. Die Vernichtung wäre ein Verlust für alle und für die zukünftige Entwicklung der Menschen.[86] Dies ist, durch die besondere Bevölkerungsstruktur, ein Problem Europas, da dort in vielen Staaten Minderheiten existieren. Wenn diese nicht von der internationalen Gemeinschaft vor der potenziellen Bedrohung durch die dominierende Mehrheit geschützt werden, werden sie abwandern. Für Lemkin war es nur logisch, dass jeder Staat dies verhindern wollen würde.[87]

Die existierenden Verträge aus den Haager Friedenskonferenzen behandelten aber kaum die Rechte von Individuen und kümmerten sich hauptsächlich um die Souveränität der Staaten und wenig um den Schutz der Bevölkerung.[88] Einige der von Lemkin gefundenen Einzeltaten des Genozids wurden zwar schon in den Haager Abkommen unter Strafe gesetzt, aber nicht alle und nicht als Gesamtheit.[89] Genozid liegt für Lemkin auf der Stufe von Mord. Eine Straftat, die jeder Mensch verurteilen muss, weil sie jeden Menschen bedroht.[90] Der Genozid ist die komplette und eklatanteste Verletzung des internationalen Rechts und der Menschenrechte. Er muss nicht nur bestraft, sondern auch verhindert werden, auch während einer Besetzung. Diese Aufgabe kann nur die internationale Gemeinschaft und das internationale Recht übernehmen.[91] Mit Hilfe eines multilateralen Vertrages sollte die Verfolgung des Genozids in die nationale Gesetzgebung der einzelnen Staaten fließen und somit eine universelle Verfolgung von Tätern eines Genozids ermöglichen. Die Täter sollten unabhängig davon, wo die Tat stattgefunden hat, überall auf der Welt angeklagt und verurteilt werden können.[92]

3.1.2.1.            Lemkins Einfluss

Lemkin entwickelte schon 1943 ganz konkrete Vorstellungen, wie die internationale Gemeinschaft nach dem Ende des zweiten Weltkrieges auf die Taten Deutschlands reagieren sollte: Mit der Einführung eines internationalen Gesetzes zur Verfolgung und Verhinderung von Genoziden. Er beließ es nicht nur bei seinem Werk, sondern setzte sich weiterhin für die Aufnahme des Genozid-Strafbestands in das internationale Recht ein. Seine Lobbyarbeit stieß auf offene Ohren, da die Welt durch die Taten Deutschlands geschockt war. Es gab ein starkes Interesse daran, internationale Gesetze gegen Genozid zu verabschieden. Der Einfluss Lemkins war zunächst auch in den Nürnberger Prozessen bemerkbar, da hier Anklage wegen Genozides erhoben wurde. Durch politische Interessen die Verbrechen nicht im Ganzen aufzuarbeiten, wurden am Ende nur die Taten während des zweiten Weltkrieges einbezogen und niemand wurde aufgrund der Teilnahme an einem Genozid verurteilt. Lemkins Begriff wurde zu einer rhetorischen Floskel.[93] Die Nürnberger Prozesse können deswegen nicht als Grundlage einer Analyse dienen.

Dass keine Urteile aufgrund der Teilnahme an einem Genozid verhängt wurden, hatte auch damit zu tun, dass der Tatbestand formal nicht existierte. Dies zu ändern war Konsens innerhalb der UN, auch dass Taten während einer Friedenszeit einbezogen werden müssen. Innerhalb der Verhandlungen über die genaue Ausarbeitung eines internationalen Gesetzes war Lemkin der größte Impulsgeber. Die UN-Resolution zu Genozid vom 11. Dezember 1946[94], trug deutlich die Handschrift Lemkins. Viele der Delegierten kannten Lemkin persönlich oder mindestens sein Werk, so war es logisch, dass dieser als Experte mitarbeitete. Er entwickelte eine sehr inklusive und weite Formulierung, welche viele Delegierte ablehnten. Lemkin war aber Pragmatiker und sehr kompromissbereit, deswegen passte er seine Formulierung an.[95]

3.1.2.2.            Inhalt der UN-Konvention

Am 9. Dezember 1948 verabschiedete die UN-Generalversammlung die Konvention über „die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“. Inhalt ist unter anderem die Pflicht der Verfolgung und Verhinderung von Genozid aller Unterzeichner, aber auch eine Definition, was Genozid ist. Im zweiten Artikel werden als Genozid fünf verschiedene Handlungen deklariert, welche die Absicht haben, eine nationale, ethnische, „rassische“[96] oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Die Handlungen sind (1) Töten von Individuen der Gruppe; (2) Verursachung von schweren körperlichen oder geistigen Schäden an Individuen; (3) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; (4) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; (5) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.[97]

Lemkins Einfluss ist hier klar nachvollziehbar, auch wenn Teile seiner Definition sich in der UN-Konvention nicht wiederfinden lassen. Verglichen mit Lemkins ersten Überlegungen von 1933, beinhaltet die Genozid-Konvention nur die Akte der Barbarei, nicht die des Vandalismus.[98] Dies ist unterschiedlichen Einwänden, verschiedener Staaten verschuldet.

3.1.2.3.            Ablehnung der UN-Konvention als Ausgangspunkt der Analyse

Die Beschädigung oder Zerstörung des sozialen Lebens, welche in Lemkins Dimensionen Teil des Genozids sind, reicht anhand der UN-Konvention nicht mehr um den Tatbestand zu erfüllen. Dies liegt daran, dass der Zusatzartikel zur UN-Konvention zum kulturellen Genozid herausgestrichen wurde.[99] Dies passierte auf Grundlage zweier Motivationen. Viele der Delegierten wollten eine Gleichstellung von Vernichtung in Gaskammern mit dem Schließen von Büchereien vermeiden. Einige Staaten hingegen planten „legale“ Assimilationen ihrer eigenen Minderheiten und Indigenen Bevölkerungen. Dies könnte als kultureller Genozid eingeordnet werden.[100] Maßgeblich zur Streichung der kulturellen Gruppen trugen die Veto- und noch Kolonialmächte Frankreich und England bei. Die Streichung der politischen Gruppen, wurde aus innenpolitischen Gründen von der Sowjetunion verlangt.[101]

Diese Streichungen waren die folgereichsten, aber nicht die einzigen. Die UN-Genozid-Konvention war ein politischer Kompromiss von unterschiedlichsten Staaten, mit unterschiedlichsten Interessen.[102] Sie ist kein geeignetes Werkzeug einer politikwissenschaftlichen Untersuchung. Die UN-Konvention und mit ihr Lemkins-Definition sind aber Meilensteine der internationalen Gesetzgebung und der Menschenrechtsformalisierung. Die Konvention ist die erste normativ-rechtliche Grundlage, welche das Verhalten von Staaten gegenüber der eigenen Bevölkerung regelt.[103] Lemkins Begriff und Definition sind hierbei der theoretische Hintergrund und die besssere Grundlage einer Genozid Analyse. Warum der Begriff notwendig ist und warum es keinen besseren Ansatz gibt, wird in der zweiten theoretischen Diskussion behandelt.

3.2.        Diskussion 2: Ist Genozid der richtige Begriff?

Lemkins Genozid-Begriff setzte sich sehr schnell durch. Schon am 3. Dezember 1944 wurde im Leitartikel der Washington Post, in dem die Existenz der Gaskammern in Auschwitz-Birkenau nachgewiesen wurde, diese grausame Erkenntnis als Genozid betitelt.[104] Mit der UN-Konvention stieg zwar die Popularität des Begriffs, aber Lemkins Definition wurde immer seltener Ausgangslage von Untersuchungen darüber. Die ersten Arbeiten bezogen sich fast ausschließlich auf die Formulierungen in der Konvention.[105] In der Genozid-Forschung ist die UN-Konvention, trotz Kritik, immer noch der praktische Ausgangspunkt der meisten Arbeiten. Es ist das einzige, international rechtliche Dokument über Genozid.[106] Es liefert eine gemeinsame Definition, da keine andere existiert, auf die sich die Forscher einigen können.[107] Dies ist ein sehr einfacher und problematischer Trick sich der Debatte zu entziehen. Mit Hilfe einer normativen gesetzlichen Definition, die endgültig ist und sich jeder Kritik entzieht, können nur sehr beschränkte Ergebnisse erlangt werden. Es stellt sich die Frage, warum ein juristischer Begriff, der auf einen politischen Kompromiss beruht, Grundlage für die Wissenschaft sein soll.[108] Es existieren Fälle, die durch diesen Kompromiss juristisch nicht als Genozid einzuordnen sind und dadurch automatisch auch nicht wissenschaftlich als solche betrachtet werden. Die Exklusivität der UN-Konvention als Analysewerkzeug ist problematisch und wie im vorherigen Kapitel erläutert, insgesamt für diese Aufgabe ungeeignet. Das Problem ist die Uneinigkeit der Wissenschaft über Alternativen. Denn die Genozid-Frage ist eine ideologische, mit Emotionen aufgeladene. Inwieweit ein wissenschaftlicher Zugang möglich ist und wie dieser auszusehen hat, wird kontrovers diskutiert.[109] In diesem Kapitel wird diese Problematik erläutert und gezeigt, wie sie aufgelöst werden kann. Die Lösung dafür ist eine Rückkehr zu Lemkins Definition. Dafür muss zuerst die gesamte Diskussion gegliedert werden. Anschließend muss gezeigt werden, warum der Genozid- Begriff so umstritten ist. Durch eine genaue Verordnung der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung können viele Argumente gegen Lemkin widerlegt werden. Die häufigsten und für diese Arbeit zutreffendsten, werden im zweiten Teil bearbeitet. Einige der Argumente und Vorwürfe können nicht vollständig aufgelöst werden, aber es wird sich zeigen, dass Lemkins Definition noch heute die beste Ausgangslage für eine Analyse ist.

3.2.1.   Verfälschung der unterschiedlichen Diskursebenen

Beim Analysieren der Genozid-Forschung und anderen Publikationen um das Thema Genozid, können in den Diskursen fünf Ebenen unterschieden werden. Eine politische, eine juristische, eine geschichtspolitische, eine moralische und eine politikwissenschaftliche.

Im politischen Diskurs geht es nicht um eine ergebnisoffene Suche nach der Wahrheit. Hier wird der Genozid-Begriff genutzt, oder bewusst vermieden, um eigene Ziele voranzutreiben. Dabei werden aktuelle Situationen bewertet, unter anderem  um die Frage zu klären: soll es zu einer militärischen Intervention kommen oder nicht?[110] Ein Ereignis als Genozid zu benennen hat auf nationaler, inter- und transnationaler Ebene enorme Konsequenzen. Denn die Verhinderung bzw. das Aufhalten eines Genozids ist eine Berechtigung, militärisch in einem anderen Land einzugreifen. Eine Benennung kann auch eine Kompensation eines Nichteingreifens sein. Ein Staat/eine Gruppe wird als Täter stigmatisiert und mindestens weitgehend international isoliert.[111]  Da es eigene politische Ziele unterstützen kann, wird die Benennung beliebig. Immer mehr Ereignisse werden zu einem Genozid. Besonders in nicht-demokratischen Staaten ist dies oft Teil von Propaganda, da der Begriff gut geeignet ist den Feind zu denunzieren.[112] Dies ist aber keine moderne Entwicklung. Schon im Kalten Krieg warfen sich USA und die Sowjetunion gegenseitig vor, Genozide zu verüben.[113]

Eng verknüpft mit der politischen Ebene ist die moralische. Auch hier geht es um die Benennung und Nichtbenennung. Genozid wird durch eine moralische Aufladung zum normativen Begriff, zu einem Kampfbegriff und einem Stigma.[114] Die Benennung als Genozid soll als ein Notsignal fungieren. Es wird Aufmerksamkeit generiert, um die internationale Politik zum Eingreifen zu bewegen und den Opfern damit zu helfen. Wer dem Aufhalten eines Genozids widerspricht, wird automatisch Unterstützer der Tat.[115] Diese Tatsache führt zu der Absurdität, dass Themen, welche überhaupt nichts mit dem Sachverhalt „Genozid“ zu tun haben, moralisch aufgeladen werden, indem Begriffe mit einer -zid Endung versehen werden (Ökozid, Fetozid etc.). Die Gegenseite wird damit automatisch als moralisch schlecht abgestempelt.[116]

Genozid war schon bei der Konzeption durch Lemkin kein reiner politikwissenschaftlicher Begriff. Lemkin wollte auch eine juristische Bestimmung. Die rechtliche Diskursebene ist dadurch eng mit dem Genozid-Begriff verwoben. Die Gefahr, den Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung nur rein rechtlich zu betrachten, ist insbesondere durch die Popularität der UN-Konvention als Ausgangspunkt präsent.[117] Recht hat ein anderes Ziel als Geschichte oder Politik. Im Recht wird generalisiert und geurteilt. Dort sollen Ereignisse vergleichbar gemacht werden. Dies teilt die juristische mit der politikwissenschaftlichen Vorgehensweise[118], wobei bei der juristischen Dimension spezifische Details ausgelassen werden müssen.[119] Das Problem ist die Ausgangslage, die Gesetze, welche in diesem Fall ungenügend sind. Durch die juristischen Unschärfen der Definition wird die Rechtsprechung behindert.[120]

Historiker wollen, im Gegensatz zur juristischen Diskursebene, Differenzierung und Unterscheidung. Die Einzigartigkeit jedes Ereignisses steht im Mittelpunkt.[121] In der geschichtspolitischen Ebne existiert eine enge Beziehung zum politischen Diskurs, nur, dass hier vergangene Ereignisse diskutiert werden. In diesem Kontext hat die Benennung/ Nicht- Benennung andere Konsequenzen und Motive.[122] Abgeschwächte Begriffe entstehen aus diplomatischen oder journalistischen Diskursen, in denen Rücksicht auf Täter und Unterstützer von Tätern genommen wird und auch um die Diplomatie zwischen den Staaten nicht zu belasten.[123] In einem anderem Teil der geschichtspolitischen Diskursebene wird die Frage der Opfer behandelt. Wer auf welche Weise Opfer eines Genozides wurde, ist eine bedeutende Frage, da die Beantwortung weite Konsequenzen mit sich bringt. Opfer werden selbst zu einem politischen Argument, bis zu der Kuriosität, dass Opfergruppen gegeneinander ausgespielt werden. Wenn auf die Genozid-Bezeichnung verzichtet wird, wird es gleichgesetzt mit einem Verrat an den Opfern. Forderung nach einer Benennung, ist die Forderung nach Anerkennung. Daran geknüpft sind Haftungsfragen und auch Wiedergutmachungszahlungen.[124]

Die politikwissenschaftlichen Diskursebene ist an die realpolitische, die moralische, die geschichtspolitische und die juristische Diskussion geknüpft und eine Trennung ist schwierig, da sie von Anfang an miteinander verbunden sind.[125] Der Genozid-Begriff wurde in der Öffentlichkeit durch den Missbrauch in den unterschiedlichen Ebenen verwässert[126] und wird in vielen Kontexten falsch verwendet. Genozid wurde zur inflationären Bezeichnung aller Konflikte mit einer hohen Zahl an zivilen Opfern.[127]  Es gibt verschiedenste Motivationen den Begriff falsch zu nutzen. Als politischer Kampfbegriff auf internationalen Ebene, um Gegner zu denunzieren oder Interventionen zu legitimieren, bis hin zu den kleinesten politischen Auseinandersetzungen mit kompletter Zweckentfremdung des Begriffes, wie der Anti-Atom- oder der Anti-Abtreibungsbewegung. Für einige Bevölkerungsgruppen wurde Genozid zum Schutzschild, um Aufmerksamkeit auf ihr Schicksal zu lenken, für andere zum Kampfinstrument, um eigenes Handeln zu legitimieren.[128] Der Genozid-Begriff wurde instrumentalisiert, von den unterschiedlichsten Akteuren, und ohne Rücksicht auf die tatsächliche Bedeutung für die eigenen Ziele missbraucht. Diese Instrumentalisierung muss entlarvt werden, dafür müssen sich Forscher*innen im Diskurs positionieren. Sie werden angreifbar von verschiedensten Seiten und Akteuren. Dies macht einen wissenschaftlichen Konsens und allgemeine Begriffe schwierig.[129] Angriffe auf die Wissenschaftler*innen sind dann selten nur inhaltlicher Natur, sondern oft ideologisch motiviert.

Durch den Missbrauch, aber auch die inhaltliche Aufladung durch die unterschiedlichsten Diskussionen, hat der Genozid-Begriff verschiedenste Aufgaben inne. Der Ursprung war ein analytischer Begriff eines Ereignisses, doch wie alle Begriffe wandelte er sich durch die Nutzung der Menschen.[130] Welche Konsequenzen müssen aus dieser Entwicklung gezogen werden? Jacques Semelin, unter anderem französischer Politikwissenschaftler, schlägt vor, den anderen Diskursebenen den Genozid-Begriff zu überlassen. Er stellt in Frage, ob der Genozid-Begriff überhaupt notwendig ist und verneint dies. Durch einen anderen Begriff soll sich die Politikwissenschaft von dem juristischen Ballast der Genozid-Forschung emanzipieren.[131] Semelin kapituliert vor dem Missbrauch und gibt Lemkins Begriff auf. Eine Möglichkeit, welche viele Forscher wählen. Eine Emanzipation von der Kritik am Genozid-Konzept und ihrer Vorbelastung ist damit nicht automatisch durchgeführt.

Alle Diskurse sind so miteinander verzahnt und beeinflussen sich gegenseitig, dass Fehler und Lücken Einfluss auf die jeweils anderen nehmen. Lemkins Definition ist eine rein analytische, auch wenn ihm die juristische und moralische Verknüpfung vorgeworfen wird. Die Rückkehr zum Ursprung und eine Art Neustart der politikwissenschaftlichen Diskussion wäre notwendig. Lemkins Begriff sollte nicht aufgegeben, sondern wieder Ausgangspunkt werden. Die meiste Kritik am Genozid-Begriff hängt mit dem Missbrauch und den verschiedenen Diskursebenen zusammen. Eine vollständige Emanzipation der Vorbelastung ist nicht möglich und nicht wünschenswert. Die Begriffs- und Benennungsdiskurse können niemals komplett getrennt von den anderen Ebenen, rein politikwissenschaftlich, geführt werden. Auch weil die Ergebnisse und Argumente der politikwissenschaftlichen Ebene von den anderen Ebenen kritisiert und auch übernommen werden. Forschende selbst können sich nicht von allen anderen Ebenen lösen und sollten dies auch nicht tun. Ihnen müssen nur die Probleme und die Vorbelastung bewusst sein und diese soweit wie möglich aufzeigen.

3.2.2.   Kritik an Lemkin und Konkurrenzansätze

Der Großteil der Kritik an dem Genozid-Begriff kann auf die politische, juristische, moralische und geschichtspolitische Vorbelastung zurückgeführt werden. Die Frage, ob ein Genozid- Begriff überhaupt notwendig ist, wird damit aber noch nicht geklärt. Auch die Vorwürfe gegen Lemkin und seine Definition können damit nur teilweise aufgehoben werden. In diesem Unterkapitel sollen die Vorbehalte geklärt und das Phänomen der vielen unterschiedlichen Konkurrenzkonzepte tiefer betrachtet werden. Auch hier spielen die fehlerhafte UN-Konvention und der Missbrauch des Genozid-Begriffes eine bedeutende Rolle.

Lemkins persönliche Geschichte ist durch seine jüdische Identität eng mit der Shoa verknüpft. Ohne die Shoa wäre es nach dem Ende des zweiten Weltkrieges nicht zur UN-Genozid-Konvention gekommen. Der Genozid-Begriff, wie auch die Genozid-Forschung, sind untrennbar mit der Shoa verbunden. Die Vernichtung der europäischen Juden durch Deutschland und die verbündeten Kräfte ist der Inbegriff des Genozids. Es gibt nicht wenige Stimmen, die behaupten, dass die Shoa einzigartig ist und somit nicht vergleichbar.[132] Mit dieser Aussage wird der Vergleich verschiedener geschichtlicher Ereignisse in Frage gestellt, eins der wichtigsten Werkzeuge der sozialwissenschaftlichen Forschung. Die Vertreter der Nicht-Vergleichbarkeit der Shoa befürchten eine Relativierung und Gleichmacherei durch den Vergleich. Besonders wenn nationalsozialistische mit stalinistischen Verbrechen verglichen werden.[133] Ein Vergleich bedeutet aber nicht, dass Ereignisse gleichgesetzt werden. Gleichsetzung würde den individuellen Geschehnissen nicht gerecht werden und falsche Verknüpfungen entstehen lassen. Die einzigartigen Hintergründe sind im Vergleich wichtig. Totalitäre Regime und Massenverbrechen unterscheiden sich extrem, ein Vergleich ist dennoch immer möglich, besonders um sich der Unterschiede bewusst zu werden. Ein Vergleich macht ein Ereignis nicht weniger schlimm, weniger grausam oder weniger bedeutend. Jedes historische Ereignis ist einzigartig, aber jedes ist auch vergleichbar. [134] Einen Trick, um die Vertreter der Unvergleichbarkeit der Shoa zu beruhigen, ist das Ausklammern dieser aus dem Genozid-Begriff.[135] Dies ist jedoch nur ein Trick um sich dem Diskurs zu entfliehen und sollte vermieden werden.

Mit der Shoa ist auch der erste große Widerspruch der Lemkin-Kritiker verbunden. Die einen behaupten, Lemkin würde die Shoa nicht wirklich erkennen und diese herunterspielen, die anderen hingegen finden, Lemkin sei zu nah an den Geschehnissen, da direkt von der Shoa betroffen. Der Vorwurf des Herunterspielens ist verwandt mit der Argumentation der angeblichen Unvergleichbarkeit der Shoa. Lemkin soll in seinem Gedankenkonstrukt nicht die umfassende Vernichtung der europäischen Juden beachtet haben.[136] Dieser Vorwurf ist haltlos. Das Gegenteil war der Fall. Lemkin erkannte schon 1943 das Ausmaß der Shoa, einem Zeitpunkt, als der Großteil der Welt diese noch ignorierte. Er sagte zwar, dass die Deutschen mehrere „Völker und Nationen“ vernichten wollten, aber er schrieb ganz deutlich, dass die Vernichtung der Juden sehr umfassend geplant war. Die Shoa war für ihn das Hauptprojekt der Deutschen und sie hatte eine viel größere biologische Dimension, als die anderen Genozide Deutschlands. Er war aber auch der Meinung, dass das Schicksal der Juden nicht vollständig von dem Schicksal der anderen Gruppen getrennt werden kann.[137] Die Geschichte zeigte, dass seine Schlüsse richtig waren. Andere Kritiker warfen Lemkin das genaue Gegenteil vor: Dass er zu sehr persönlich betroffen war, um objektiv zu sein. Als polnischer Jude, dessen Familie nahezu vollständig vernichtet wurde, war er natürlich persönlich betroffen, und dies war auch Teil seines Antriebs. Der familiäre Hintergrund diskreditiert Lemkin und sein Werk nicht, es stellt sich sogar die Frage, wie so etwas überhaupt ein Vorwurf sein kann.[138] Zahlreiche Quellen deuten darauf hin, dass Lemkin sich kaum mit der Verbindung seines eigenen Schicksals und seinem Begriff auseinandersetzte.[139] Er vermischte Erlebtes mit seinem Wissen und ein verdrängtes Trauma war Teil seines Antriebs.[140] Er war also kein neutraler Beobachter, aber dieser idealtypische, von jeglichen äußeren Einflüssen befreite Wissenschaftler*in, ist nicht möglich und nicht wünschenswert. Es sind Menschen mit individuellen Lebensgeschichten, welche ihnen auch individuellen Zugang zu Themen ermöglichen. Die fehlende, bzw. sehr geringe Reflexion Lemkins über sein eigenes Leben im Bezug zu seiner Forschung, ist ein berechtigter Vorwurf. Seine Grundideen über den Genozid sind nachweislich älter als der zweite Weltkrieg und deswegen teilweise von der Shoa getrennt. In seinem Genozid-Konzept kann nur wenig direkte Beeinflussung durch seine persönliche Geschichte gefunden werden. Lemkin legte großen Wert auf seine polnische Identität, dies könnte die große Rolle des Schicksals der polnischen Menschen in seiner Genozid-Analyse erklären. Er war überzeugt, dass Deutschland auch die polnische Nation im Ganzen zerstören wollte, wenn nicht in dem biologischen Ausmaß wie die jüdische Bevölkerung. Auch hier zeigt sich, dass seine Einschätzung richtig war, auch wenn sie vielleicht durch seine Identitäten beeinflusst war. Sein Hintergrund verfälscht seine Analyse und seine Definition nicht.

Lemkins Konzept wird vorgeworfen, dass es instabil und zu zweideutig wäre, was im akademischen Diskurs und in der Praxis sichtbar sei.[141] Weder der akademische Diskurs noch die Praxis werden von Lemkin selbst, sondern von der UN-Konvention und anderen Diskursen dominiert. Trotzdem wird dies immer wieder kritisiert, oft in dem Zusammenhang, dass Lemkin sich nicht entscheiden kann, ob Genozid eine neue Erscheinung ist oder doch eine sehr alte. Lemkin behauptete beides, in dem er sagt, dass Genozid als Neues in einer angeblich „zivilisierten“ Welt auftritt.[142] Die Frage, ob es ein neues oder altes Phänomen ist, ist in der Analyse dieser Arbeit ohne Bedeutung. Aus den Vorwürfen der Instabilität Lemkins, der Neu-Alt Einteilung und dem Widerspruch zwischen der angeblichen Relativierung der Shoa und der persönlichen Befangenheit, wird die Annahme konzipiert, dass Lemkin seinen eigenen Begriff nicht verstand. Dem Erfinder des Begriffes so etwas zu unterstellen, fußt darin, dass Lemkins Konzept von vielen falsch oder auch gar nicht verstanden wurde.[143] Oft wird das angebliche Unverständnis Lemkins als Argument genommen, warum ein eigenes Konzept entwickelt werden muss.

Die gleiche Schlussfolgerung wird im zweiten großen Widerspruch der Lemkin-Kritiker gezogen. Lemkins Genozid-Konzeption wird von zwei verschiedenen Lagern vorgeworfen, einmal zu exklusiv und auf der anderen Seite zu inklusiv zu sein. Im „zu inklusiven“ Lager findet sich auch die Fraktion der Unvergleichbarkeit der Shoa. Der größte Teil sind aber jene, welche alle weiteren Dimensionen, neben der reinen physischen Auslöschung, als Ziel eines Genozides ablehnen. Der größte Streitpunkt ist dabei der kulturelle Genozid, welcher schon im Entstehungsprozess der UN-Konvention kontrovers diskutiert wurde.[144] Das andere Lager sind die Inklusivisten, welche keine Opfergruppen ausschließen wollen.[145] Für sie ist Lemkins Definition durch seine Kriterien zu eng. Es stellt sich die Frage, wie ein allumfassender inklusiver Ansatz überhaupt noch wissenschaftliche Erkenntnisse liefern kann.

Die Fragestellung, welche Gruppen Opfer eines Genozids sein können, begleitet die Genozid-Diskussion schon von Anfang an und ist die meistdiskutierteste Kontroverse. Durch eine zu weite Ausdehnung des Begriffes, droht eine Inhaltsleere und Aussagelosigkeit, was die Folge hat, dass er von alle politischen Lagern, für die eigenen Interessen ausgenutzt werden kann. Es gibt den Ansatz, dass die Täter-Gruppe definiert welche Gruppe Opfer ihres Genozids ist.[146] In dieser Arbeit, spielt die Gruppenproblematik kaum eine Rolle, da die bosnischen Muslime*innen als Gruppe in den meisten Genozid-Definitionen eingeschlossen sind. Eine mit der Gruppendiskussion verwandte Kritik, ist die des Eurozentrismus Lemkins. Handelt es sich nur um einen Genozid, wenn zivilisierte Völker andere zivilisierte Völker vernichtet?[147] Dieser Vorwurf bezieht sich auf seinem Umgang mit dem Kolonialismus. Er verurteilt diesen zwar, geht aber auch von einer Mitschuld der unterdrückten Menschen in den Kolonien aus.[148] Als weißer Europäer ist sein Eurozentrismus nachvollziehbar, besonders wenn beachtet wird, dass er hauptsächlich den zweiten Weltkrieg in Europa analysiert. Die meisten seiner Beispiele sind europäische und so kann ihm schon ein gewisser Eurozentrismus nachgesagt werden. Dies stellt aber nicht den universellen Anspruch seines Begriffs und seiner Konzeption in Frage. Die Unterstellung, dass es Gruppen von Menschen gibt, welche nicht die Dimensionen Lemkins ausgeprägt haben und damit dort nicht vernichtet werden können, ist deutlich ignoranter als der Eurozentrismus Lemkins.

Eine weitere inhaltliche Kritik ist die an dem Nachweis der Absicht, welche notwendig ist um etwas als Genozid zu klassifizieren. Denn die Täter-Gruppe wird immer behaupten, dass es keine Absicht war und damit auch kein Genozid. Ohne den Zugriff auf Geheimakten, Geständnissen und Gesprächsaufzeichnungen, kann die Absicht kaum nachgewiesen werden.[149] Auch ist es schwer Flächenbombardements, Besatzungen, Hungersnöte, grobe Fahrlässigkeit oder die Atombombe einzuordnen. Viele Wissenschaftler wollen die Absichtsfrage auslassen.[150]

Die gesamten Diskussionen über den Genozid-Begriff und dessen Schwächen sind begleitet durch Umbenennungen, Neudefinierungen und Neologismen. [151] Die Motivation dahinter ist unterschiedlich. Viele wollen sich von der UN-Konvention und ihren Lücken emanzipieren, andere erschaffen neue „-zid“-Begriffe um genau die Lücken der UN-Konvention zu füllen, z.B. die politischen Gruppen einzubeziehen. Oft handelt es sich eigentlich nur um neue Namen welche eine engere oder erweiterte Genozid-Definition verstecken.[152] Es kommt zu einer inflationären Neuschöpfung von Begriffen. Dies zeigt zwar das große Forschungsinteresse und die vielen möglichen Schwerpunkte, aber führt zu vielen Missverständnissen und Verständigungsproblemen innerhalb der Forschung.[153] Neuschöpfungen sind fast alle so definiert, dass sie in Lemkins Definition aufgehen. Dessen Definition ist damit die umfassendere.[154]

Ein mit dem Krieg in Bosnien-Herzegowina verbundener Begriff, ist die „ethnische Säuberung“. Dieser wurde in die Diskussion über den Bosnienkrieg eingebracht, um in journalistischen Beiträgen die Angriffe der serbischen Kräfte auf die bosnischen Muslime*innen zu behandeln, ohne es Genozid nennen zu müssen. Das passierte aus Rücksicht von Serbien und auch Russland, welche Serbien unterstützten. Der Begriff wurde schnell in den Sprachgebrauch von Journalisten*innen, Diplomaten*innen der NATO, EU und USA und von Politiker*innen übernommen, aus den gleichen Motiven.[155] Es handelt sich aber um einen verharmlosenden Begriff, welcher aus einer wörtlichen Übersetzung aus den slawischen Sprachen entsprungen ist.[156] Er ist nur entstanden um Ereignisse nicht Genozid nennen zu müssen, aus rein diplomatischer Motivation. Als wissenschaftlicher Begriff unbrauchbar.

Das Adjektiv „genozidal“ sollte vermieden werden. Es entstand aus der fehlerhaften UN-Konvention und diplomatischer Rücksicht auf Täter- und Unterstützerstaaten. Es ist somit auch ein fauler Kompromiss, welcher zu Abstufung von Genoziden verwendet werden kann. Es verwässert den Diskurs und beruht auf falscher Motivation.[157]

Lemkins Definition kann zwar nicht von allen Vorwürfen komplett befreit werden, ist aber bis heute die allumfassendste und eindeutigste Genozid-Konzeption. Warum wird ein Genozid Begriff überhaupt benötigt? Es existiert der Einwand, dass es keinen Unterschied zwischen Genozid und Massenmord gäbe.[158] Dies kann aber schon beim Blick auf die genaue Definition aufgelöst werden. Der Massenmord kann zwar Teil eines Genozids sein, muss aber nicht. Die Absicht, eine Gruppe als solche zu vernichten, kann als eindeutigstes Merkmal des Genozids betrachtet werden, auch wenn diese Absicht schwer nachweisbar ist. In der Forschung wird ein Genozid-Begriff gebraucht, um genau solche Ereignisse vergleichen zu können. Ohne allgemeinen Begriff kann es keinen Vergleich geben.[159] Nur durch diesen Begriff können die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Ereignisse verstanden werden und nur damit können die Verbrecher verfolgt und Genozide in Zukunft verhindert werden.

4.   Kann von einem Genozid gesprochen werden?

In diesem Kapitel wird anhand von Ereignissen des Bosnienkrieges von 1992 bis 1995 untersucht, ob nach Lemkins Definition ein Genozid an den bosnischen Muslimen*innen verübt wurde. Zunächst werden dafür die verschiedenen Dimensionen betrachtet und Nachweise gesucht, ob diese von den serbischen Kräften angegriffen wurden. Erst dann kann, wenn Absicht und Plan nachgewiesen wurden, beantwortet werden, ob ein Genozid stattgefunden hat.

4.1.        Lemkins Dimensionen

Lemkin beschrieb mögliche Angriffe auf verschiedene Dimensionen des Lebens einer Gruppe. Mit Hilfe seiner Einteilung in politische, soziale, wirtschaftliche, biologische, physische, religiöse und moralische Dimensionen werden die einzelnen Geschehnisse des Bosnienkrieges eingeordnet. Es folgt eine Einschätzung, ob die Dimensionen von den serbischen Kräften angegriffen wurden.

4.1.1. Politische Dimension

Die Zerstörung der bosnischen staatlichen Institutionen passierte schon vor dem Krieg durch die serbische SDS. Ein großer Schritt war die Gründung der „Autonomen serbischen Regionen“ im Mai 1991, mit deren Hilfe die SDS die Verwaltung und die Exekutive in vielen Städten und Gemeinden übernahm.[160] In vielen Ortschaften, in denen die bosnischen Serben keine Mehrheit bildeten, wurden Monate vor dem Angriff Parallelstrukturen aufgebaut. Als Soldaten diese Ortschaften eroberten, ersetzten die Parallelstrukturen sofort die existierenden lokalen Strukturen, unter anderem auch Gerichte und die Polizei.[161] Die externen Truppen und die ansässigen SDS-Mitglieder bereinigten somit in kürzester Zeit alle lokalen Institutionen und Selbstverwaltungen von nicht-bosnisch-serbischen Personen. Dies traf hauptsächlich die muslimische Bevölkerung.

In einigen Orten wurde mit der Übernahme der Rundfunksender nur noch serbisches Programm gesendet. Diese verbreiteten hauptsächlich serbisch-nationalistische Propaganda, unter anderem direkt aus Belgrad.[162] Damit wurden zwar keine öffentlich sichtbaren Zeichen der bosnischen Muslime entfernt, aber die öffentlich hörbaren. Da die Bosnier*innen, egal welchen kulturell-religiösen Hintergrund sie hatten, dieselbe Sprache und dieselbe Schrift verwendeten, das Serbokroatische, konnte diese auch nicht Ziel der serbischen Aktionen werden. Erst nach dem Krieg begannen die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sich auch mit ihrer Sprache zu differenzieren. Durch den direkten Einfluss durch Serbien wurde auch die kyrillische Schrift bei den serbischen Bosniern weiterverbreitet. Vor und während des Krieges spielte die kyrillische Schrift aber keine Rolle.[163]

Vor den serbischen Angriffen wurde in einigen später eroberten Regionen, hauptsächlich in den Städten, für ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Gruppen demonstriert. An solchen Demonstrationen nahmen serbische, kroatische und muslimische Bosnier*innen teil.[164] In der Hauptstadt Sarajevo, welche nie von den serbischen Truppen eingenommen wurde, blieb die serbisch-bosnische Bevölkerung bis zum Kriegsende in der Stadt und plädierte für ein friedliches Miteinander.[165] Wenn Ortschaften durch serbische Kräfte erobert wurden, musste die lokale bosnisch-serbische Bevölkerung sich solidarisch mit den Besatzern zeigen und sie offen unterstützen. Dies beinhielt unter anderen, dass sie sich von ihren bosnisch-muslimischen Nachbarn distanzieren mussten.[166] Die Täter nicht zu unterstützen war keine Option für die bosnisch-serbische Bevölkerung, da sie durch dieses Verhalten mindestens benachteiligt, meistens sogar bestraft wurde.

Da die bosnisch-serbischen Einwohner der eingenommenen Ortschaften mindestens die zweitgrößte Gruppe waren, folgte die serbische „Neu-Nationalisierung“ schnell und effizient. Schon vor der Einnahme wurde mit der Belagerung und gezielten Angriffen auf zivile Ziele, inklusive Beschuss durch Artillerie, die Vertreibung der bosnisch-muslimischen und anderen nicht-serbischen Bevölkerungsteilen vorangetrieben.[167] Nach der Einnahme kam es zur organisierten Vertreibung. Meistens wurden Frauen, Kinder und alte Menschen aus den serbischen Gebieten mit Hilfe von Güterzügen, oder ähnlichen Transportmitteln, abtransportiert, Männer zwischen 16 und 65 hingegen in Konzentrationslager eingesperrt.[168] Oft floh die Bevölkerung schon vor oder während des Angriffes in die nähere Umgebung. Sie wurde dann mit Radioberichten, die eine sichere Rückkehr versprachen, wieder zurück gelockt. Der Plan der serbischen Kräfte war eine unorganisierte Vertreibung in eine organisierte Aussiedelung zu wandeln. Dafür wurde eine Agentur zum Häusertausch eingeführt. Diese versprach der muslimischen Bevölkerung, wenn sie ihr Haus offiziell den Behörden überlassen, würden sie zum Austausch ein Haus einer bosnisch-serbischen Familie in einem vom bosnischen Staat kontrollierten Gebiet bekommen. Dafür gab es keine Garantie und es zogen zwar serbische Menschen in die bosnisch-muslimischen Häuser,[169] aber es gab keine Entschädigung. Kamen geflohene bosnische Muslime*innen zurück, wurde zuerst ihr ganzer Besitz registriert und den Behörden zwangsüberschrieben, danach wurden sie ausgesiedelt.[170] Es war das Ziel, die eroberten Gebiete so schnell wie möglich von bosnisch-muslimischer Bevölkerung zu „reinigen“. Verließen sie diese nicht freiwillig, wurde dies erzwungen.[171]

Die politische Dimension Lemkins wurde durch die Aktionen der serbischen Kräfte deutlich angegriffen. Besonders die Übernahme der Verwaltung und die mediale Propaganda sind zwar auch aus militärischer Sicht nachvollziehbare Schritte, trotzdem deutlich auf die nicht-serbische und vor allem bosnisch-muslimische Bevölkerung gezielt. Die Vertreibung kann als systematische Kolonisierung eingeordnet werden, welche durch die Ansiedelung neuer serbischer Bevölkerung vervollständigt wurde.

4.1.2. Soziale Dimension

Einer der ersten Schritte nach der Okkupation eines Gebietes war es gegen die lokalen Anführer, also die bosnisch-muslimischen Eliten, vorzugehen. Sie wurden getötet, eingesperrt oder in Konzentrationslager gebracht. Dies betraf Politiker, religiöse Führer, Lehrer, Richter, Anwälte und Verwaltungsmitglieder.[172] Es war das Ziel, in den Gemeinschaften die offizielle wie inoffizielle Führung zu zerstören.[173] Sie waren die ersten Opfer der serbischen „Reinigung“ der eroberten Gebiete und wenn sie nicht offiziell verhaftet wurden, „verschwanden“ sie einfach.[174] Alle Mitglieder der SDA und damit ein großer Teil aller politischen Aktivisten und Regierungsvertreter wurden in Konzentrationslagern inhaftiert.[175] Sie wurden hauptsächlich Opfer von Folter und Exekutionen. Es wurde nicht nur gegen die Führung der Gruppe, sondern auch gegen alle wohlhabenden und gebildeten bosnischen Muslime vorgegangen.[176] Anhand von vorgefertigten Listen wurden gezielt alle gebildeten und sozial höhergestellten bosnisch-muslimischen Männer rausgesucht. In vielen Orten überlebten nur die Arbeiter. Alle Muslime, welche lesen und schreiben konnten, wurden getötet. Kein Lehrer überlebte in den besetzten Gebieten.[177] Durch den Verlust der politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Elite wurde das soziale Leben der bosnisch-muslimischen Menschen in den Regionen zu großen Teilen zerstört. Auch konnte sich dadurch kaum effektiver Widerstand gegen den serbischen Aggressor bilden. Es hat noch heute Einfluss auf die Bevölkerung und die Entwicklung Bosnien-Herzegowinas.

Die soziale Struktur in den eroberten Ortschaften wurde aber nicht nur durch die Zerstörung der Eliten angegriffen. Die bosnisch-muslimischen Zivilbevölkerung wurde ebenso Ziel der Politik der Besatzer. Diese wurde systematisch unterdrückt. Alle nicht-serbischen Haushalte, hauptsächlich muslimische, mussten mancherorts weiße Fahnen am Haus als Zeichen ihrer Kapitulation anbringen. Sie mussten sich, z.B. mit weißen Armbinden, in der Öffentlichkeit kenntlich machen. In manchen Orten wurden Ausgangssperren gegen sie verhängt. Ihnen wurde der Aufenthalt in Restaurants, auf Straßen und anderen öffentlichen Plätzen verboten. Sie durften nicht in Flüssen schwimmen, fischen oder jagen, unerlaubt in andere Ortschaften reisen, Waffen besitzen, Kraftfahrzeuge fahren oder sich in Gruppen von mehr als drei Personen versammeln. Das Ziel war das tägliche Leben der bosnischen Muslime*innen so weit wie möglich einzuschränken.[178] Die Diskriminierung war mit Hasspropaganda verbunden, welche auch durch die lokalen Medien verbreitet wurden. Es war ein Angriff auf alle Bereiche des Lebens der Muslime*innen. Zeitgleich trieben die Täter einen Keil zwischen den Muslimen*innen und ihren bosnisch-serbischen Nachbarn, durch Angst und Hass, geschürt mit unwahren Behauptungen.[179] Der bosnisch-muslimischen Bevölkerung wurde es fast unmöglich gemacht ihr soziales Leben in ihren Heimatstädten aufrecht zu erhalten. Weder zwischen anderen bosnisch-muslimischen Menschen, noch mit dem Rest der Bevölkerung.

Um der sozialen Struktur der muslimischen Bosnier langfristig zu schaden, zerstörten die serbischen Kräfte systematisch Kulturdenkmäler und sogar ganze Städte.[180] Diese zerstörten sie ohne jeglichen militärischen Grund. Alles mit ethnischem Bezug sollte verschwinden, besonders kulturelle Bauwerke.[181] Neben dem Zerstören von gesamten Ortschaften wurden mancherorts nur die Häuser der muslimischen Bevölkerung abgerissen.[182] Es wurden die historisch wertvollen Moscheen in Ferhadija und Arnaudija, wie auch die Kulturdenkmäler in Dubrovnik und Vukovar, zerstört.[183] Das kulturelle Erbe war ein primäres Ziel der serbischen Kräfte, keine beiläufige Aktion. Das alltägliche Leben der bosnisch-muslimischen Bevölkerung sollte erschwert und mit der Vernichtung der Kultur ihre Lebensgrundlage als Gruppe entzogen werden. Sichtbar am Schicksal der Nationalbibliothek Sarajevos. Obwohl die Stadt nicht eingenommen wurde, wurde diese gezielt zerstört.[184]

Angriffe auf die soziale Dimension sind deutlich erkennbar. Diese können kaum als militärisch sinnvolle Maßnahmen interpretiert werden. Der bosnisch-muslimischen Zivilbevölkerung, welche nicht aktiv an dem Konflikt teilnahm, wurde das soziale Leben nicht nur erschwert. Durch das Vernichten, auch der zivilen Elite und ihrer Kulturstätten, wurde gezielt ihre soziale Grundlage als Gruppe zerstört. In vielen Ortschaften ist heute kein muslimisches Leben mehr vorhanden.

4.1.3. Wirtschaftliche Dimension

Nach der Unabhängigkeitserklärung von Bosnien-Herzegowina bauten die serbischen Verantwortlichen die Wirtschaft um. Sie passten die wirtschaftlichen Strukturen der kontrollierten Gebiete an die Serbiens an. Um den Austausch von Waren zu vereinfachen wurde eine eigene Währung eingeführt, mit dem Ziel ein geschlossenes Wirtschaftsgebiet der besetzten Gebiete in Kroatien und Bosnien-Herzegowina und mit Serbien aufzubauen. Damit verbesserten sie ihre eigene Infrastruktur. Die Industrie und Firmen von nicht-serbischen Bosniern wurden übernommen. [185]

Die Verbote zielten auf die zivile Bevölkerung. Besonders die Verbote der Fischerei, der Jagd und dem Fahren von Kraftfahrzeugen hatten negative Auswirkungen auf das Einkommen und die wirtschaftliche Produktivität der bosnischen Muslime*innen. Sie verloren meistens bei der Eroberung ihrer Heimatdörfer und -städte als erstes ihre Arbeit.[186] Reiche muslimische Haushalte wurden mit Hilfe von Listen, welche ortsansässige SDS-Mitglieder erstellten, systematisch und gezielt ausgeraubt.[187] Aber auch Menschen,  die freiwillig besetzte Ortschaften verlassen wollten, konnten dies nur tun, wenn sie all ihren Besitz an die Behörden überschrieben.[188] Waren Ortschaften schon von den bosnisch-muslimischen Bewohnern „gereinigt“, nahmen die Soldaten die Besitztümer an sich.[189] Die paramilitärischen Einheiten wurden dadurch teilweise entlohnt.[190]

In der wirtschaftlichen Dimension ist es teilweise fraglich, wie weit Aktionen gezielt nur gegen die muslimische Bevölkerung gerichtet waren. Allerdings waren das Arbeitsverbot und die erzwungene Abgabe der Besitztümer deutlich gegen die Gruppe gerichtet, da die Individuen nur anhand ihrer ethnischen Zuordnung ausgesucht wurden. Der Krieg hatte aber auf die ganze wirtschaftliche Situation Bosnien-Herzegowinas erhebliche negative Einflüsse. Ob nun durch gezielte Zerstörung oder als Kollateralschaden, durch den Krieg kollabierte die bosnische Wirtschaft. Im August 1994 war die Produktion auf 5-10% des Vorkriegsniveaus eingebrochen. Bis heute gibt es keine Erholung.[191]

4.1.4. Biologische Dimension

„Mischehe“, die Ehe zwischen den verschiedenen kulturell-religiösen Gruppen, war unter der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas sehr häufig. Durch das enge Zusammenleben waren über 16 Prozent aller Kinder vor dem Krieg aus solcher. Die Menschen lebten nicht nur zusammen, sondern waren auch miteinander verwandt.[192] Neue „Mischehen“ wurden in verschiedenen Regionen nach der Besatzung verboten und etwas später bestehende sogar aufgehoben. Kinder aus solchen Ehen wurden als „unbrauchbar“ stigmatisiert.[193] Mit dieser Taktik konnte der soziale Zusammenhalt zwischen den unterschiedlichen Gruppen und ihren Mitgliedern geschwächt werden. Um die Geburten durch bosnische Musliminnen schwieriger zu gestalten, wurde ihnen die Geburt in Krankenhäusern verboten.[194] Dies war eine bewusste gesundheitliche Gefährdung der Mutter und des Neugeborenen.

Es kam nach der Einnahme einer Ortschaft so gut wie immer zu der Aufteilung der Bevölkerung in zwei Gruppen. In die erste kamen Männer im sogenannten „wehrfähigen“ Alter, zwischen 16 und 65,  in die zweite der Rest.[195] Das Aussortieren, Einsperren und Töten der Männer erfolgte nicht aus militärischer Motivation. Die meisten Männer waren keine Soldaten und damit keine Gefahr für den serbischen militärischen Erfolg. Die bosnisch-muslimische Gruppe war patriarchal organisiert. Durch das Entfernen der Männer sollte die Gruppe zusammenbrechen.[196] Die Gruppe sollte am Überleben gehindert werden und in naher Zukunft sollte es keine neuen Geburten von „muslimischen“ Kindern geben. Es kam in diesem Zusammenhang immer wieder zu Verschleppungen von bosnisch-muslimischen Frauen und Kindern in die eigene „serbische“ Gruppe.[197]

Um das „biologische Potential“ der bosnischen Muslime*innen zu verringern, kam es zur systematischen Vergewaltigung muslimischer Frauen.[198] Diese fanden in und außerhalb von Konzentrationslagern statt.[199] Die Frauen wurden nur aufgrund ihres ethnischen Hintergrundes Opfer der Vergewaltigungen. Sie wurden gezielt als Opfer ausgewählt, um „serbische Kinder“ zu gebären.[200] Ein absurdes und rassistisches Denken. Obwohl es auch nach rassistischer Logik keinen Unterschied zwischen den bosnisch-serbischen und bosnisch-muslimischen Menschen gab. Ebenso wenig ist ein Neugeborenes, nur weil sein*ihr biologischer Vater einer kulturell-religiösen Gemeinschaft angehört, Teil einer anderen kulturell-religiösen Gruppe als die Mutter. Dass dies trotzdem angenommen wurde, sagt viel über den ideologischen Hintergrund der Täter. Sie wollten erreichen, dass die bosnisch-muslimischen Frauen keine muslimischen Kinder mehr gebären. Vergewaltigung als Mittel zukünftiges muslimisches Leben in der Region zu verhindern.[201] Einige der vergewaltigten Frauen wurden dabei so lange festgehalten, bis das Kind zur Welt kam, oder eine gefahrlose Abtreibung nicht mehr möglich war.[202] Bei den Vergewaltigungen handelte es sich nicht um Einzeltaten als Begleiterscheinung des Krieges, sondern um systematisches Vorgehen, welches Teil der serbischen Strategie war.[203]

Die serbischen Kräfte wollten den bosnisch-muslimischen Bevölkerungsanteil dauerhaft reduzieren. Ihre neugewonnene demographische Dominanz sollte nie wieder gefährdet werden.[204] Es wurde sehr eindeutig auf die biologische Dimension gezielt. Bosnisch-muslimische Geburten sollten nicht nur erschwert, sondern auch verhindert werden.

4.1.5. Physische Dimension

Die serbischen Truppen verursachten durch ihre jahrelange Belagerung in den verschiedenen Städten enorme Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung. Da sie kaum humanitäre Hilfe von außen zuließen, wurde dieser Effekt verstärkt.[205] Im Winter 1993 blockierten die serbischen Kräfte jegliche Nahrungs- und Spritlieferungen. Jedoch selbst mit Hilfe der UN hätte die Bevölkerung nicht ausreichend versorgt werden können.[206] Dies war eine beabsichtigte Taktik der serbischen Führung. Sie wurde genutzt um belagerte Enklaven klassisch „auszuhungern“, wie zum Beispiel in Srebrenica, wo das Abschneiden der Versorgung auch große Probleme für die UN-Soldaten zur Folge hatte.[207] Die Kappung von Trinkwasser hatte die Blauhelme in eine ähnliche Notsituation gebracht wie die bosnisch-muslimische Bevölkerung, wobei diese das Hauptziel der Aktion gewesen ist.[208] Die Verknappung der Nahrungsmittel und des Trinkwassers wurde nicht nur aus militärisch motivierter Belagerungstaktik durchgeführt, sondern auch gezielt gegen die bosnisch-muslimische Zivilbevölkerung. In Konzentrationslagern wurde den Inhaftierten in den ersten Tagen weder Essen noch Trinken gegeben. Und auch danach blieb die Versorgung unter der lebensnotwendigen Menge. Durch die Unterernährung verloren viele Insassen im Schnitt um die 30 kg Gewicht. Viele starben an der Unterversorgung.[209]

Die meisten Verbrechen, welche auf die physische Dimension zielen, wurden in den Konzentrationscamps verübt. Im Norden Bosnien-Herzegowinas betrieben die serbischen Kräfte 94 Lager, wobei in vielen hauptsächlich Männer untergebracht waren.[210] Die Inhaftierung erfolgte rein aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit und nicht wegen verübter Taten oder ähnlichem.[211] Die Lager waren alle überbelegt und es gab für die Gefangenen kaum Platz. In einigen Camps wurden Neuankömmlinge, wenn es keinen Platz mehr gab, sofort hingerichtet.[212] Durch die starke Überfüllung und die kaum existierenden Schlafmöglichkeiten stieg die Verbreitung von Krankheiten in den Konzentrationslagern an. Ein weiterer Zustand war die schreckliche Hygiene in den Lagern. Es gab kaum Toiletten und von denen waren die meisten kaputt. Es existierte oft keine Infrastruktur, um sich zu reinigen oder die Kleidung zu wechseln. Läuse, Hautausschläge, Durchfall und viel Anderes war die Konsequenz.[213] Männer hatten den schlechtesten Zugang zu sanitären Anlagen. Deswegen mussten sich viele in ihre Kleider oder in die Aufenthaltsräume entleeren. Sowohl die Kleidung als auch die Baracken wurden sehr selten bis gar nicht gereinigt. Das Benutzen von Toiletten, wenn diese vorhanden waren, war mit Misshandlungen durch die Wachen verbunden. Die Insassen wurden dabei so verprügelt, dass sie blutüberströmt in die Gemeinschaftsräume zurückkamen. Durch diese Situation waren Krankheiten keine Seltenheit und da sie nicht behandelt wurden, oft auch der sichere Tod für die Insassen. Selbst Krankheiten wurden von den Wachen als Anlass von erneuter Misshandlung hergenommen.[214] Misshandlungen waren alltäglich für viele der bosnisch-muslimischen Gefangenen. In den Konzentrationslagern oder anderen Orten wo sie festgehalten wurden, waren sie Misshandlungen ab den ersten Tag ausgesetzt. Willkürliche Prügel zu jeder Tages- und Nachtzeit um eine Atmosphäre von Terror und Angst zu erzeugen.[215] Von diesen Prügelattacken waren hauptsächlich Männer betroffen, welche getrennt von den Frauen eingesperrt wurden. Die Frauen mussten oft die Misshandlungsräume saubermachen, wo das Blut der Männer überall klebte.[216]

Sie wurden ebenso Opfer von Misshandlungen und vor allem von Vergewaltigungen. Diese passierten nicht nur um „serbische“ Kinder zu zeugen, sondern auch um die Gruppe einzuschüchtern, zu erniedrigen und zu terrorisieren. Das Ziel war die Gruppe, die Opfer die einzelnen Frauen.[217] Deswegen wurden sie direkt an der Front, in den Privathäusern der Opfer oder sogar an öffentlichen Plätzen vergewaltigt. Oft mussten ihre Mütter, Kinder, Väter, Ehemänner oder andere Mitglieder ihrer Gemeinde zusehen.[218] Vergewaltigung als Mittel der Zerstörung der Gruppe und organisiert, keine bloße Begleiterscheinung des Krieges.[219]

Auch außerhalb der Konzentrationslager wurde die physische Entkräftung der Bevölkerung gezielt vorangetrieben. Durch das Verbot von Kraftfahrzeugen in einigen Ortschaften oder die Blockade von Treibstoff wurde das Leben der Menschen stark erschwert. Durch das Zerstören von Häusern und Städten[220] wurde Wohnraum knapp, was mit den großen Zahlen an Vertriebenen verschlimmert wurde. Belagerungen hatten, wie im Fall Sarajevo, oft nur den primären Zweck die zivile Bevölkerung zu terrorisieren und ihr Leben zu erschweren.[221] Einige Ortschaften wurden Wochen bis Monate beschossen, dann in Brand gesteckt und die Überlebenden exekutiert.[222]

Massenexekutionen wurden manchmal sofort nach der Eroberung an den „wehrfähigen“ bosnisch-muslimischen Männern durchgeführt.[223] In anderen Regionen wurden die Exekutionen erst in den Konzentrationslagern vollstreckt.[224] In Srebrenica wurden innerhalb nicht mal einer Woche 7000 bis 8000. Männer exekutiert.[225] Bis 2010 wurden 42 Massengräber in den ehemaligen serbisch besetzten Gebieten entdeckt, wobei weitere 22 vermutet werden. Die serbischen Kräfte haben beim Rückzug, um ihre Verbrechen zu vertuschen, die Gräber geöffnet und die Überreste in schwer zugänglichen Gebieten verscharrt.[226]

Die physische Dimension der bosnisch-muslimischen Bevölkerung wurde gezielt von den serbischen Kräften angegriffen. Dabei wurde versucht mit allen möglichen Aktionen die physische Entkräftung der Gruppe zu erreichen. In Konzentrationslagern wurden die Insassen misshandelt und umgebracht. Durch Massenexekutionen, innerhalb oder außerhalb der Lager, sind viele bosnische Männer ums Leben gekommen. Wie in vielen Kriegen ist die genaue Anzahl an Toten schwierig zu ermitteln. Es wird vermutet, dass bis zu 329 000 Menschen im Bosnienkrieg ihr Leben ließen. Davon über 50 Prozent bosnische Muslime*innen.[227] Es sind viele den direkten Kampfhandlungen zum Opfer gefallen, aber ein großer Teil ist auf die serbische Politik zurückzuführen.

4.1.6. Religiöse Dimension

Die Religion spielte nur eine geringe Rolle im Konflikt, war aber die große Unterscheidung der Gruppen. Sie war also nicht Auslöser der Gewalt, aber doch ein wichtiges Identifikationsmerkmal der eigenen Gruppe und der Gruppen der Anderen.[228]  Der Islam war Ziel verschiedener Aktionen, aber nicht aus religiösem Hass, sondern um den Muslimen*innen als Gruppe zu schaden. Es wurden im Laufe des Krieges über 1000 Moscheen zerstört.[229] Allein zwischen Juni und August 1992 wurden 430 Moscheen gesprengt.[230] Zum Religionswechsel, und damit Kulturwechseln, wurden nur wenige Menschen gezwungen, da es in diesem Konflikt hauptsächlich um neuen Boden und nicht um die fremde Bevölkerung ging.[231] Der Islam sollte in den besetzten Gebieten vernichtet werden, um das religiöse Leben der bosnischen Muslime*innen unmöglich zu machen. Deswegen wurden neben den weltlichen Eliten auch die religiösen Führer verfolgt, eingesperrt und getötet.[232] Die Religion wurde dabei auch genutzt um die Gruppe zu demütigen. In einem Zeugenbericht wird beschrieben wie ein Iman, vor den Augen seiner Gemeindemitglieder, unter Folter gezwungen wird seine religiösen Prinzipien zu brechen. Dabei wird unter anderem versucht  ihn zum Biertrinken zu zwingen, kurz bevor die Soldaten ihn ermordeten.[233] Die eher kulturell und nicht religiös geprägten muslimischen Männer, wurde mancherorts mit dem Überprüfen der Beschneidung ausgesondert. Dies war für die Pläne der serbischen Kräfte unnötig. Es wurde nur zur Demütigung der bosnischen Bevölkerung durchgeführt.[234]

4.1.7. Moralische Dimension

Die moralische Dimension, wie nach Lemkin beschrieben, wurde von den serbischen Kräften nicht angegriffen. Die sehr schnelle „Reinigung“ der Gebiete von den bosnischen Muslimen*innen machte solche Maßnahmen überflüssig. Durch die verschiedenen Maßnahmen konnte trotzdem ein Zusammenbruch des moralischen Gefüges beobachtet werden, aber nicht indem das individuelle Vergnügen im Vordergrund stand. Durch die serbische Propaganda war es eher eine Atmosphäre des Hasses und des Misstrauens zwischen den Bevölkerungsgruppen. Auch kam es in den Internierungslagern zu Übergriffen zwischen den Gefangenen, welche durch die Misshandlungen und Unterernährung manchmal nur noch auf die eigenen Bedürfnisse achteten.[235]

4.2.        Absicht, Plan und Genozid

Lemkins Genozid-Definition aus Einzelteilen aufgebaut, welche alle zutreffen müssen, um ein Ereignis als Genozid einordnen zu können. Die Definition lautet: Genozid ist ein koordinierter Plan unterschiedlicher Aktionen, mit dem Ziel, essentielle Lebensgrundlagen einer Gruppe zu zerstören oder schwer zu schädigen, um die Gruppe als solche teilweise oder ganz zu vernichten.

Die verschiedenen Dimensionen finden sich in „unterschiedliche Aktionen mit dem Ziel essentielle Lebensgrundlagen einer Gruppe zu zerstören oder schwer zu schädigen“. Es können zwar nur Angriffe auf sechs der sieben verschiedenen Dimensionen eindeutig nachgewiesen werden, aber nach Lemkin müssen nicht alle Dimensionen Ziel eines Genozides sein. Es müssen nur noch drei weitere Teile der Definition bestätigt werden. Die erste ist die scheinbar simpelste. Können die bosnischen Muslime*innen überhaupt als eigenständige Gruppe, welche Ziel eines Genozides werden kann, verstanden werden? Nur wenn dies zutrifft, kann nach dem „koordinierten Plan“ gefragt werden. Die letzte zu beantwortende Frage entsteht aus der gesamten Definition, kann aber in „um die Gruppe als solche teilweise oder ganz zu vernichten“ ab deutlichsten rausgelesen werden. Die Frage nach der Absicht.

Nach Lemkin können nationale, religiöse und ethnische Gruppen Opfer eines Genozides sein.[236] Auf den ersten Blick können die bosnischen Muslime*innen, durch den direkten Religionsbezug in der Bezeichnung, als religiöse Gruppe eingestuft werden. Diese bezeichneten sich aber größtenteils, besonders in den Städten, als säkular.[237] Dort waren sie, auch da die wirklichen Unterschiede zwischen den bosnischen Gruppen minimal waren[238],  wenig auf ihren Hintergrund bedacht und lebten vermischt mit allen andern Gruppen. Erst durch den Druck von außen entstand ein bosnisch-muslimischer Nationalismus.[239] Durch den serbischen Angriffskrieg gegen sie wurde dieser verstärkt. Erst ab 1993 nannten sich die bosnischen Muslime*innen, nach der früheren Fremdbezeichnung.[240] Die Kriege in Jugoslawien, wie auch der Krieg in Bosnien-Herzegowina, waren nicht ethnisch, religiös oder rassistisch motiviert. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina war ein ethno-nationalistischer Krieg, dessen Auslöser der serbische Traum eines ethnisch „reinen“ Großserbiens war.[241] Die Täter-Gruppe eines Genozides ist die, welche entscheidet, wie die Opfer-Gruppe definiert wird.[242] Die serbische Aggression und der Nationalismus in Kroatien und Serbien definierten die bosnischen Muslime als Gruppe. Die bosnischen Muslime*innen können so als ethnische, religiöse oder nationale Gruppe verstanden werden[243] und sind damit eine Gruppe, welche Ziel eines Genozides werden kann.

Früh gab es unter den serbischen Kräften den Plan, die Situation kriegerisch zu lösen. Schon vor dem Krieg gab es einen Plan einer ethnisch „reinen“ serbischen Republik im Staatsgebiet Bosnien-Herzegowinas. Dafür wurden die bosnisch-serbischen Männer Monate davor bewaffnet und militärisch ausgebildet.[244] Schon über ein halbes Jahr vor dem Angriff bauten SDS-Mitglieder eine bosnisch-serbische Polizei und einen Geheimdienst auf und ab dem Frühjahr 1992 auch paramilitärische Gruppen. Die militärischen Übungen mit der bosnisch-serbischen Zivilbevölkerung wurden immer häufiger. Sie wurden von der JVA organisiert, welche im Jahreswechsel 91/92 verstärkt in den bosnischen Gebieten stationiert wurde.[245] Kurz vor den Angriffen der JVA verließen die bosnisch-serbischen Familien die Ortschaften, mit unterschiedlichsten Ausreden und waren beim Zeitpunkt der Angriffe nicht in den attackierten Dörfern und Städten. Sie haben gewusst, was passieren würde.[246] Der Krieg war somit seit langer Zeit geplant und gut vorbereitet.[247] Während der Kampfhandlungen wurde deutlich, dass nicht nur diese geplant waren. Bei vielen Aktionen auf die verschiedenen Dimensionen des bosnisch-muslimischen Lebens wurde auf Informationen von vorbereiteten Listen zurückgegriffen. Ob bei der Plünderung wohlhabender Muslime*innen[248], die Trennung und Deportation der Bevölkerung[249] oder der Verfolgung der Eliten.[250] Die Konzentrationslager wurden von örtlichen Behörden geleitet und waren direkt der serbischen Republik unterstellt. Alles war von oberster Stelle abgesegnet und befohlen.[251] Auch bei den gezielten Hinrichtungen in den Lagern wurde nach vorbereiten Listen vorgegangen.[252] Die Deportationen waren geplant und abgesprochen mit lokalen bosnisch-serbischen Unternehmen, welche die Aufträge übernahmen.[253] Dass es sich um organisierte Deportationen handelt, wird auch bei dem Fall Srebrenica deutlich. Um die 50 private Fahrzeuge mussten organisiert werden, hauptsächlich von lokalen Unternehmen. Um genug zusammenzubekommen, wurde der Angriff auf Srebrenica um eine Woche verschoben.[254] Die Deportationen und die Massenexekutionen liefen in Srebrenica sehr organisiert ab. Jedem Mann wurden alle Ausweise und Besitztümer abgenommen, damit sie nach der Exekution nicht leicht identifizierbar waren.[255] Die Exekutionen wurden geplant und systematisch durchgeführt. Busse holten die Gefangenen ab und fuhren sie zum Exekutionsplatz.[256] Dass die Armeeangehörigen und die verschiedenen Untergruppen der serbischen Kräfte komplett autonom agiert haben, ist zwar möglich, aber unwahrscheinlich. Die Armee war nämlich nach der sowjetischen „Befehlstaktik“ aufgebaut. Klare Befehle, klare Zuordnung und keine Interpretationsspielräume. Befehle wurden direkt und gewissenhaft durchgeführt. Sie wurden von ganz oben betätigt und die Aufgabenteilung war bis nach unten durchorganisiert.[257] Die Abläufe mussten geplant werden, sonst wären sie organisatorisch nicht durchführbar. Es wurden genug Truppen gebraucht, die Logistik musste durchdacht und für die Exekutionen genug Munition und schwere Maschinen zum Ausheben der Gräber organisiert werden.[258] Allein der personelle Aufwand war gewaltig. Bei den Deportationen und Exekutionen in Srebrenica waren um die 25 000 Menschen im Einsatz, davon ca. 19 500 Soldaten.[259] Es gab einen Plan für den Krieg, für die Deportationen und für die Exekutionen.

Im Oktober 1991 drohte der Präsident der SDS, Radovan Karadžić, im bosnischen Parlament ganz offen mit der Vernichtung der bosnischen Muslime*innen.[260] Später, als Oberhaupt der serbischen Republik, wiederholte er seine Drohung. Die anstehende Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas kommentierte er, indem er drohte, dass „die Muslime denselben Weg nehmen wie Kroatien, den Weg zur Hölle, nur das die Hölle in Bosnien-Herzegowina noch 100-mal schlimmer sein wird und das Verschwinden der Muslime mit sich bringt“.[261] Viele der Verbrechen passierten vor Fernsehkameras und die Täter bekundeten ganz offen, dass sie die Vernichtung der Muslime*innen bis zum Ende durchziehen würden.[262] Vor dem Angriff auf die Enklaven 1995 gab Ratko Mladić eine Anweisung an seine Truppen. Sie sollten „ein Klima der totalen Unsicherheit und eine unerträgliche Situation schaffen, ohne Hoffnung auf Überleben für die Bevölkerung Žepas und Srebrenicas“.[263] Nach der Eroberung von Srebrenica machte er den Menschen, welche sich dort noch befanden, eindeutig klar, dass sie die Stadt zu verlassen haben. Wenn nicht, dann würden sie „verschwinden“.[264] Viele der männlichen Muslime „verschwanden“ tatsächlich und von einigen wurden die Überreste bis heute nicht gefunden. Nach den Exekutionen sagte Mladić am 19. Juli zu UN-Kommandanten, dass seine Truppen in Srebrenica alles korrekt beendet haben.[265] Srebrenica war aber kein Einzelfall. Ähnliches passierte in rund 20 Ortschaften innerhalb von zwei Monaten. Es wurde immer nach ähnlichen Mustern vorgegangen, inklusive Deportationen, Vergewaltigungen und Exekutionen.[266] Es gab von vielen verschiedenen Führern der serbischen Kräfte Drohungen die Muslime*innen zu vernichten und es existierte die klare Aufgabe, ganze Gebiete von „den anderen“ zu reinigen, damit diese auch in Zukunft serbisch wären.[267] Es sollten alle „serbischen Gebiete“ miteinander verbunden und alle anderen Gruppen davon entfernt werden.[268] Es ging von Anfang an um eine langfristige Strategie. Auch wenn der Krieg verloren gehen würde, sollten die Regionen serbisch bleiben. Die serbischen Kräfte wollten nicht über die anderen Ethnien herrschen, ihnen war der Boden wichtiger und dieser Boden sollte ethnisch „rein“ sein.

In Srebrenica lebten 1991 nach der Volkszählung 37 211 Menschen, davon bezeichneten sich 27 118 als Muslime*innen und 9381 als Serben*innen.[269] Nach dem Krieg und noch heute leben dort nur noch bosnisch-serbische Menschen.[270] Die bosnischen Muslime*innen wurden in einigen Gebieten Bosnien-Herzegowinas, in denen ihre Vorfahren seit Jahrhunderten lebten, vernichtet. Ehemals ethnisch durchmischte Regionen wurden und sind nun ethnisch homogen.[271] Es existierte nicht nur die Absicht die Gruppe der bosnischen Muslime*innen als solche zu vernichten, der Genozid war in einigen Regionen Bosnien-Herzegowinas – aus Sicht der Ethno-nationalistischen Ideologie – erfolgreich.

5.   Ergebnis und Fazit

Die serbischen Kräfte griffen im Grunde alle von Lemkin vorgezeichneten Dimensionen des bosnisch-muslimischen Lebens an. In der politischen Dimension wurden die lokalen Institutionen und die existierende Selbstverwaltung, welche alle Bevölkerungsgruppen abbildete, zerstört und durch rein serbische Strukturen ersetzt. Die ansässige bosnisch-serbische Bevölkerung wurde mit Hilfe von Propaganda gegen die Muslime*innen aufgehetzt. Wenn dies nicht gelang, wurden die bosnischen Serben*innen gezwungen sich gegen ihre Nachbarn, und manchmal auch Familienmitglieder, zu stellen. Die vorher multiethnisch besiedelten Gebiete wurden neu „nationalisiert“. Sie wurden serbisch. Dies beinhaltete auch die Vertreibung und Umsiedelung der bosnisch-muslimischen Menschen.

Um jeglichen Widerstand der bosnischen Muslime*innen zu verhindern und sie langfristig führungslos zu machen, wurden sämtliche Eliten verfolgt, eingesperrt und umgebracht. Aber auch die Zivilbevölkerung verlor alle ihre Rechte und war der Willkürherrschaft ausgesetzt. Sie wurde systematisch unterdrückt, falls nicht sofort vertrieben. Durch die Zerstörung von muslimischen Kulturgebäuden sollte jegliches bosnisch-muslimische kulturelle Leben in den eroberten Regionen unmöglich gemacht werden. Die soziale Dimension des Lebens der bosnisch-muslimischen Menschen wurde in diesen Gebieten komplett zerstört.

In der wirtschaftlichen Dimension ging es auf der einen Seite um die Bereicherung an den Opfern, aber genauso um den Muslimen*innen wirtschaftliche Macht zu nehmen. Ihnen wurden die Arbeitsplätze weggenommen, wie auch all ihr Besitz und die Möglichkeit sich selbst zu versorgen. Die wirtschaftliche Struktur wurde an die von Serbien angepasst, um durch die „Mutternation“ noch mehr zu profitieren. Insgesamt hat der ganze Krieg der wirtschaftlichen Kraft Bosnien-Herzegowinas nachhaltig geschadet.

Die Entvölkerung der eroberten Gebiete, das Beseitigen der bosnisch-muslimischen Bevölkerung, wurde sehr konsequent durchgeführt. Um die biologische Dimension anzugreifen, haben die serbischen Kräfte zunächst „Mischehen“ verboten, aufgehoben und Kinder aus diesen stigmatisiert. Die Bevölkerung wurde in mindestens zwei Gruppen aufgeteilt, wobei immer eine Trennung der „wehrfähigen“ Männer von den Frauen stattgefunden hat. Durch systematische Vergewaltigungen sollten Frauen „serbische“ Kinder auf die Welt bringen. Bosnisch-muslimische Geburten sollten nicht nur reduziert werden, sondern komplett verhindert. Neues bosnisch-muslimisches Leben konnte nicht mehr auf den eroberten Gebieten entstehen.

Die physische Dimension des bosnisch-muslimischen Lebens sollte zerstört werden. Die serbischen Kräfte verknappten die Lebensmittel und machten die Selbstversorgung sehr schwierig. Sie gefährdeten die Gesundheit der Ziel-Gruppe jedoch nicht nur durch das Zurückhalten der Nahrung. Den Muslimen*innen sind unter anderem auch medizinische Versorgung, Wasser und Unterkünfte verwehrt worden. Außerhalb, aber besonders innerhalb, von Konzentrationslagern erfuhren die bosnisch-muslimischen Menschen Misshandlungen. Männer durch Folter und Frauen durch systematische Vergewaltigung. Die bosnischen Muslime*innen sollten gebrochen werden. Die reine physische Vernichtung erfolgte in zahlreichen Massenexekutionen, sinnbildlich dafür steht Srebrenica.

Obwohl es sich nicht um einen religiös motivierten Krieg handelte, war der große Unterschied zwischen der bosnisch-serbischen und bosnisch-muslimischen Bevölkerung die Religion. Deswegen war diese den gezielten Angriffen der serbischen Kräfte ausgesetzt. Die religiöse Identität der Opfer sollte zerstört werden. Moscheen und andere sichtbaren Zeichen des Islams waren systematischer Zerstörung ausgesetzt. Religionsführer wurden genauso verfolgt wie die weltliche Elite. Die Täter nutzten die Religion, um sie, und damit die Gruppe, zu brechen. Sie zerstörten die religiöse Dimension des Lebens der bosnischen Muslime in vielen Regionen komplett.

Alleine der Angriff auf die moralische Dimension kann nach Lemkins Einteilung nicht nachgewiesen werden. Zwar wurde nicht durch leichten Zugang zu Glücksspiel, Prostitution oder anderen individuellen Vergnügungen die moralische Instanz der bosnisch-muslimischen Menschen zerstört, aber durch die Hass-Propaganda und dem Zerstören aller Grundlagen des sozialen Lebens der Muslime*innen, wurde ein Klima des Misstrauens und der Angst erzeugt. In diesem Klima gab es oft keine Möglichkeit mehr nach moralischen Vorstellungen zu handeln.

Essentielle Lebensgrundlagen der bosnisch-muslimischen Bevölkerung wurden gezielt von den serbischen Kräften angegriffen und in vielen Teilen der besetzten Gebiete zerstört. Dies erfolgte mit Hilfe von koordinierten Plänen. Das Ziel war es, so viel Fläche wie möglich, hauptsächlich an der serbischen Grenze, ethnisch „rein“ und damit exklusiv serbisch zu machen. Dafür sollte die ansässige bosnisch-muslimische Gruppe als solche vernichtet werden.

Es wurde im Bosnienkrieg von 1992-95 an den bosnischen Muslimen*innen von den serbischen Kräften ein Genozid, nach Raphael Lemkins Definition, verübt.

Das primäre Ziel der serbischen Kräfte war, dass die Gebiete, welche unter ihrer Kontrolle waren, ethnisch-homogen wurden, also ausschließlich serbisch-orthodox. Deswegen waren auch die kroatischen Minderheiten in den Gebieten den Ethno-Nationalisten im Weg. Sie wurden ebenso Opfer der serbischen Verbrechen. Des Weiteren zeigte der Krieg in den teilweise serbisch besiedelten Gebieten Kroatiens Parallelen zu den Ereignissen in Bosnien-Herzegowina. Ob ein Genozid an den Kroaten*innen stattfand, bleibt offen zu untersuchen.

In der theoretischen Diskussion um Genozid wird bewusst, dass die Genozid-Forschung mit großen Problemen zu kämpfen hat. Dies beruht auf zwei Fehlern. Der erste ist das Berufen auf den zweifelhaften politischen Kompromiss der UN-Genozid-Konvention, welche eine rein juristische Definition voller Lücken ist. Daher als politikwissenschaftliches Analysewerkzeug ungeeignet. Der zweite Fehler ist, dass viele Forscher*innen zwar die Lücken in der Genozid-Konvention wahrnehmen, aber den falschen Schluss ziehen. Aus verschiedenen Motivationen heraus werden neue Begriffe erschaffen, welche die Lücken stopfen sollen. Sie sind durch ihren Entstehungs-Hintergrund auch fehlerhaft, somit kann sich die Forschung nicht auf bestimmte Begriffe einigen. Der Diskurs bewegt sich nicht von der Stelle. Der richtige Ansatz wäre es, die UN-Konvention und die juristische Genozid-Auseinandersetzung als spezielle Fälle der Genozid-Forschung auszuklammern, um wieder auf den wissenschaftlichen Ursprung des Begriffes zu gelangen. Ein Neustart der Genozid-Forschung, aufgebaut auf Raphael Lemkin, ist notwendig.

Warum der Genozid in der modernen Menschheitsgeschichte so allgegenwertig ist, beantwortet diese Arbeit nicht. Zwar gibt es zwischen dem Holocaust, den Ereignissen im Bosnienkrieg und anderen Genoziden einen Zusammenhang mit einem Anstieg des Ethno-Nationalismus, aber es gibt auch Fälle, wo andere Motive ausschlaggebend waren. Warum Genozide nicht verhindert bzw. eingedämmt werden, kann jedoch deutlich am Bosnienkrieg gesehen werden. Die internationale Gemeinschaft ist unfähig gegen Staaten, die sich weder an internationale Gesetzgebung und Regeln halten und sich nicht um Menschenrechte kümmern, erfolgreich vorzugehen. Das liegt an der Struktur des UN-Sicherheitsrates, mit seinen ständigen Mitgliedern und Vetomächten, Russland und China. Beide haben genügend bewiesen, dass sie nur etwas von internationalen Gesetzen und Menschenrechten halten, wenn es in die eigene Agenda passt. Besonders Russland spielte im Bosnienkrieg eine Rolle. Es verhinderte als Partner des ebenso orthodoxen Serbiens ein entschlossenes Vorgehen des UN-Sicherheitsrates und die Aufklärung der Verbrechen. Russland war auch in der Transformation, anders als viele westliche Optimisten dachten, kein verlässlicher Partner des Westens. Es ist bezeichnet, dass Russland auch heute in Syrien durch die Partnerschaft mit Assad verhindert, dass die UN Maßnahmen beschließen und durchführen, welche den Konflikt entschärfen und Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung verhindern könnten. Ein weiteres Dilemma ist der Konflikt zwischen staatlicher Souveränität und Interventionen, welches überwunden werden muss. Es ist aber wie bei der Reform des UN-Sicherheitsrates nachvollziehbar, warum die internationale Gemeinschaft weit davon entfernt ist, nur eins davon zu lösen. Deswegen wird die Welt sich nach dem nächsten Genozid wieder fragen: Wie konnte so etwas nur passieren? Und weil die Menschheit nicht aus ihren Fehlern lernt, wird die Antwort wieder lauten: Weil wir es zugelassen haben.

 

Literaturverzeichnis:

Calic, Marie-Janine, 2007: „Der jugoslawische Nachfolgekrieg 1991-95“ in Bosnien-Herzegowina – Wegweiser zur Geschichte, S. 71 – 79, 2. Auflage, Agilaf Keßelring (Hrsg.) , Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag.

Džihić, Vedran, 2009: Ethnopolitik in Bosnien-Herzegowina – Staat und Gesellschaft in der Krise, Southeast European Integration Perspectives 2, Baden-Baden: Nomos.

Goldhagen, Daniel Jonah, 2009: Schlimmer als Krieg – Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist, München: Siedler Verlag.

Jakir, Aleksander, 2007: „Bosnien-Herzegowina im ersten und zweiten jugoslawischen Staat“ in Bosnien-Herzegowina – Wegweiser zur Geschichte, S. 57 -692. Auflage, Agilaf Keßelring (Hrsg.), Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag.

Keßelring, Agilaf, 2007: Bosnien-Herzegowina – Wegweiser zur Geschichte, 2. Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag.

Lemkin, Raphael, 1944: Axis Rule in Occupied Europe, Washington: Carnegie endowment for international peace.

Melcic, Danja, 2007: „Kriegsverbrechen Srebrenica“ in Bosnien-Herzegowina – Wegweiser zur Geschichte, S. 146 – 155, 2. Auflage, Agilaf Keßelring (Hrsg.) , Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag.

Mojzes, Paul, 2011: Balkan Genocides – Holocaust and ethnic cleansing in the twentieth century, Studies in Genocide: Religion, History and Human Rights, Plymouth: Rowman & Littlefield.

Moses, A. Dirk, 2010: „Raphael Lemkin, Culture, and the concept of Genocide“, in The Oxford Handbook of Genocide Studies, S. 19-41, Donals Bloxham and A. Dirk Moses (Hrsg.), Oxford University Press: New York.

Rabinbach, Anson, 2009: „Begriffe aus dem Kalten Krieg – Totalitarismus, Antifaschismus, Genozid“, Vorträge und Kolloquien Band 5, Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein Verlag.

Rabinbach, Anson, 2005: „Lemkins Schöpfung – Wie Völkermord zum juristischen und politischen Begriff wurde.“, in Zeitschrift für Internationale Politik 2/2005, S. 21-31.

Robel, Yvonne, 2013: Verhandlungssache Genozid – Zur Dynamik geschichtspolitischer Deutungskämpfe, Schriftreihe: Genozid und Gedächnis, München: Wilhelm Fink Verlag.

Sémelin, Jacques 2007: Säubern und Vernichten – Die Politik der Massaker und Völkermorde, deutsche Ausgabe, Thomas Laugstien (Übers.), Hamburg: Hamburger Edition.

Ternon, Yves, 1996: Der verbrecherische Staat – Völkermord im 20 Jahrhundert, aus dem frz. von Cornelia, Langendorf, Hamburg: Hamburger Edition.

Tolimir-Hölzl, Nataša, 2009: Bosnien und Herzegowina – Sprachliche Divergenz auf dem Prüfstand, Studies on Language and Culture in Central and Eastern Europe Band 5, München -Berlin: Verlag Otto Sagner.

Wieser, Angela, 2007: Ethnische Säuberungen und Völkermord – Die genozidalen Absichten im Bosnienkrieg von 1992 – 1995, Politik und Demokratie Band 9, Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag.

Wirth, Steffen, 2001: „Zum subjektiven Tatbestand des Völkermordes – Zerstörungsabsicht und Vertreibungsverbrechen“ in Gegen Völkermord und Vertreibung – Die Überwindung des zwanzigsten Jahrhunderts, Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen 28, S. 59 – 74, Bernd Rill (Hrsg.), Hans Seidel Stiftung, Akademie für Politik und Zeitgeschehen.

 

Quellenverzeichnis:

The prosecutor oft the tribunal against Ratko Mladic, United Nations International Criminal Tribunal for the former Yogoslavia, http://www.icty.org/x/cases/mladic/ind/en/mla-ai021010e.pdf, zuletzt aufgerufen am: 20.11.2016.

The Conflicts, United Nations International Criminal Tribunal for the former Yogoslavia, http://www.icty.org/en/about/what-former-yugoslavia/conflicts, zuletzt aufgerufen am: 20.11.2016.

Resolutions adopted by the general assembly during ist first session, United Nations, un.org,

https://documents-dds-ny.un.org/doc/RESOLUTION/GEN/NR0/033/47/IMG/NR003347.pdf?OpenElement, zuletzt aufgerufen am: 20.11.2016.

Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Documents Gathering a body of global agreements, http://www.un-documents.net/a3r260.htm zuletzt aufgerufen: 20.11.2016.

Konvention von 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, Bundesanzeiger, http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl254s0729.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl254s0729.pdf%27%5D__1477577822308, zuletzt aufgerufen: 20.11.2016.

[1] Vgl. The Conflicts, United Nations International Criminal Tribunal for the former Yogoslavia, http://www.icty.org/en/about/what-former-yugoslavia/conflicts, zuletzt aufgerufen am: 20.11.2016

[2] The prosecutor oft the tribunal against Ratko Mladic, United Nations International Criminal Tribunal for the former Yogoslavia, http://www.icty.org/x/cases/mladic/ind/en/mla-ai021010e.pdf, zuletzt aufgerufen am: 20.11.2016.

[3] Vgl. Paul, Mojzes 2011: Balkan Genocides – Holocaust and ethnic cleansing in the twentieth century, Studies in Genocide: Religion, History and Human Rights, Plymouth: Rowman & Littlefield. Mojzes, S. 189.

[4] Vgl. Jacques, Sémelin, 2007: Säubern und Vernichten – Die Politik der Massaker und Völkermorde, deutsche Ausgabe, Thomas Laugstien (Übers.), Hamburg: Hamburger Edition, S. 341 & 342.

[5] Vgl. Lemkin, Raphael, 1944: Axis Rule in Occupied Europe, Washington: Carnegie endowment for international peace, Lemkin, S. 79.

[6] Vgl. Semelin a.a.O, S. 343.

[7] Vgl. Vedran, Džihić, 2009: Ethnopolitik in Bosnien-Herzegowina – Staat und Gesellschaft in der Krise, Southeast European Integration Perspectives 2, Baden-Baden: Nomos, S. 137.

[8] Ebd. S. 138.

[9] Ebd. S. 138 & 139.

[10] Vgl. Agilaf, Keßelring, 2007: Bosnien-Herzegowina – Wegweiser zur Geschichte, 2. Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, S.9.

[11] Vgl. Aleksander, Jakir, 2007: „Bosnien-Herzegowina im ersten und zweiten jugoslawischen Staat“ in Bosnien-Herzegowina – Wegweiser zur Geschichte, S. 57 -69, 2. Auflage, Agilaf Keßelring (Hrsg.), Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, S. 57 & 58.

[12] Vgl. Yves, Ternon, 1996: Der verbrecherische Staat – Völkermord im 20 Jahrhundert, aus dem frz. Von Cornelia, Langendorf, Hamburg: Hamburger Edition, S. 304.

[13] Vgl. Jakir a.a.O. S. 58.

[14] Vgl. Ebd. S. 59.

[15] Vgl. Ternon a.a.O. S. 396.

[16] Vgl. Ebd., S. 397.

[17] Vgl. Ebd., S. 62.

[18] Vgl. Ebd., S. 63.

[19] Vgl. Džihić a.a.O. S. 141.

[20] Vgl. Marie-Janine, Calic, 2007: „Der jugoslawische Nachfolgekrieg 1991-95“ in Bosnien-Herzegowina – Wegweiser zur Geschichte, S. 71 – 79, 2. Auflage, Agilaf Keßelring (Hrsg.), Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, S. 71.

[21] Vgl. Ebd., a.a.O. S. 302.

[22] Vgl. Calic a.a.O. S. 73.

[23] Vgl. Džihić a.a.O. S. 146.

[24] Vgl. Ebd., S. 143.

[25] Vgl. Ternon a.a.O. S. 304.

[26] Vgl. Džihić a.a.O. S. 144.

[27] Vgl. Calic a.a.O. S. 74.

[28] Vgl. Danja, Melcic, 2007: „Kriegsverbrechen Srebrenica“ in Bosnien-Herzegowina – Wegweiser zur Geschichte, S. 146 – 155, 2. Auflage, Agilaf Keßelring (Hrsg.) , Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, S. 148.

[29] Vgl. Ebd., S. 148.

[30] Vgl. Angela, Wieser, 2007: Ethnische Säuberungen und Völkermord – Die genozidalen Absichten im Bosnienkrieg von 1992 – 1995, Politik und Demokratie Band 9, Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, S. 59.

[31] Vgl. Ebd., S. 63.

[32] Vgl. Ebd., S. 64.

[33] Vgl. Ebd., S. 64.

[34] Vgl. Ebd., S. 66.

[35] Vgl. Džihić a.a.O. S. 146.

[36] Vgl. Ternon a.a.O. S. 309.

[37] Vgl. Wieser a.a.O. S. 65.

[38] Vgl. Calic a.a.O. S. 75.

[39] Vgl. Džihić a.a.O. S. 150 & 151.

[40] Vgl. Ternor a.a.O. S. 308.

[41] Vgl. Wieser a.a.O. S. 86.

[42] Vgl. Džihić a.a.O. S. 156.

[43] Vgl. Wieser a.a.O. S. 87.

[44] Vgl. Melic a.a.O. S. 151.

[45] Vgl. Wieser a.a.O. S. 88.

[46] Vgl. Ebd., S. 89.

[47] Vgl. Džihić a.a.O. S. 156.

[48] Vgl. Ternon a.a.O. S. 309.

[49] Vgl. Ebd., S. 309 & 310.

[50] Vgl. Ebd., S. 310 & 311.

[51] Vgl. Džihić a.a.O. S. 153.

[52] Vgl. Anson, Rabinbach, 2009: „Begriffe aus dem Kalten Krieg – Totalitarismus, Antifaschismus, Genozid“, Vorträge und Kolloquien Band 5, Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein Verlag, S.64.

[53] Ebd., S. 67.

[54] Ebd., S. 68.

[55] Anson, Rabinbach, 2005: „Lemkins Schöpfung – Wie Völkermord zum juristischen und politischen Begriff wurde.“, in Zeitschrift für Internationale Politik 2/2005, S. 21-31, S. 21.

[56] A. Dirk, Moses, 2010: „Raphael Lemkin, Culture, and the concept of Genocide“, in The Oxford Handbook of Genocide Studies, S. 19-41, Donals Bloxham and A. Dirk Moses (Hrsg.), Oxford University Press: New York, S. 20.

[57] Vgl. Lemkin a.a.O. xiii

[58] Vgl. Moses a.a.O.  S. 30.

[59] Vgl. Rabinbach 2005 a.a.O. S. 26 & Moses a.a.O. S.30.

[60] Vgl. Moses a.a.O.  S.31

[61] Vgl. Rabinbach 2009 a.a.O. S. 56

[62] Vgl. Moses a.a.O. S.39.

[63] Vgl. Rabinbach 2009 a.a.O. S.44.

[64] Vgl. Rabinbach 2005 a.a.O. S. 24.

[65] Vgl. Rabinbach 2009 a.a.O. S. 50.

[66] Vgl. Moses a.a.O. S. 31 & 32.

[67] Vgl. Rabinbach 2005 a.a.O. S. 27.

[68] Vgl. Moses a.a.O. S. 32.

[69] Vgl. Lemkin a.a.O.  S. 79.

[70] Vgl. Ebd., S. 79.

[71] Vgl. Ebd., S. 79.

[72] Vgl. Ebd., S. 79.

[73] Vgl. Ebd., S. 80 & 81.

[74] Vgl. Ebd., S. 81.

[75] Vgl. Ebd., S. 82. s

[76] Vgl. Ebd., S. 82 & 83.

[77] Vgl. Ebd., S. 83 & 84.

[78] Vgl. Ebd., S. 85 & 86.

[79] Vgl. Ebd., S. 86.

[80] Vgl. Ebd., S.87 & 88.

[81] Vgl. Ebd., S. 89.

[82] Vgl. Ebd., S. 90.

[83] Vgl. Ebd., S. 90.

[84] Vgl. Ebd., S. 92.

[85] Vgl. Ebd., S.90.

[86] Vgl. Ebd., S. 91.

[87] Vgl. Ebd., S. 93.

[88] Vgl. Ebd., S. 90.

[89] Vgl. Ebd., S. 92.

[90] Vgl. Ebd., S. 91.

[91] Vgl. Ebd., S. 94.

[92] Vgl. Ebd., S. 93 & 94.

[93] Vgl. Moses a.a.O. S. 36.

[94] Vgl. Resolutions adopted by the general assembly during ist first session, United Nations, un.org,

https://documents-dds-ny.un.org/doc/RESOLUTION/GEN/NR0/033/47/IMG/NR003347.pdf?OpenElement, zuletzt aufgerufen am: 20.11.2016.

[95] Vgl. Moses a.a.O. S.37.

[96] Dies ist eine wörtliche Übernahme aus der deutschen Übersetzung. Das Konzept menschlicher Rasse wird von dem Autor dieser Arbeit abgelehnt.

[97] Vgl. Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Documents

Gathering a body of global agreements, http://www.un-documents.net/a3r260.htm zuletzt aufgerufen: 20.11.2016; Deutsche Übersetzung:  Gesetz über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu der Konvention von 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, Bundesanzeiger, http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl254s0729.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl254s0729.pdf%27%5D__1477577822308, zuletzt aufgerufen: 20.11.2016; Teilweise wörtliche Übernahme aus der deutschen Übersetzung.

[98] Vgl. Moses a.a.O. S.38.

[99] Vgl. Steffen, Wirth, 2001: „Zum subjektiven Tatbestand des Völkermordes – Zerstörungsabsicht und Vertreibungsverbrechen“ in Gegen Völkermord und Vertreibung – Die Überwindung des zwanzigsten Jahrhunderts, Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen 28, S. 59 – 74, Bernd Rill (Hrsg.), Hans Seidel Stiftung, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, S. 71.

[100] Vgl. Moses a.a.O. S. 38.

[101] Vgl. Rabinbach 2009 a.a.O. S. 45.

[102] Vgl. Semelin a.a.O. S. 345.

[103] Vgl. Rabinbach 2009 a.a.O. S. 47.

[104] Vgl. Rabinbach 2005 a.a.O. S. 26.

[105] Vgl. Semelin a.a.O. S. 344.

[106] Vgl. Yvonne, Robel, 2013: Verhandlungssache Genozid – Zur Dynamik geschichtspolitischer Deutungskämpfe, Schriftreihe: Genozid und Gedächnis, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 40.

[107] Vgl. Semelin a.a.O. S. 350.

[108] Vgl. Ebd., S. 350 & 351.

[109] Vgl. Ebd., S. 416 & 417.

[110] Vgl. Rabinbach 2005 a.a.O. S. 23.

[111] Vgl. Robel a.a.O. S. 52 – 54.

[112] Vgl. Semelin a.a.O. S. 339 & 340.

[113] Vgl. Rabinbach 2009 a.a.O. S. 62 & 63.

[114] Vgl. Robel a.a.O. S. 65.

[115] Vgl. Semelin a.a.O. S 338 & 339.

[116] Vgl. Robel a.a.O. S. 65.

[117] Vgl. Semelin a.a.O. S. 344.

[118] Vgl. Rabinbach 2005 a.a.O. S. 24.

[119] Vgl. Rabinbach 2009 a.a.O. S. 48 & 49.

[120] Vgl. Robel a.a.O. S. 51.

[121] Vgl. Rabinbach 2005 a.a.O. S.24 und Rabinbach 2009 a.a.O. S. 48 und 49.

[122] Vgl. Robel a.a.O. S. 62 & 63.

[123] Vgl. Ebd., S. 63.

[124] Vgl. Ebd., S 64.

[125] Vgl. Ebd., S. 67.

[126] Vgl. Rabinbach 2009 a.a.O. S. 62 – 63.

[127] Vgl. Semelin a.a.O. S. 335.

[128] Vgl. Robel a.a.O. S. 52.

[129] Vgl. Semelin a.a.O.  S. 336 & 337.

[130] Vgl. Rabinbach a.a.O. S. 50.

[131] Vgl. Semelin a.a.O. S. 349, 350 & 353.

[132] Vgl. Robel a.a.O. S. 69 & 70.

[133] Vgl. Ebd., S. 69.

[134] Vgl. Semelin a.a.O. S. 418.

[135] Vgl. Ebd., S. 343.

[136] Vgl. Moses a.a.O. S. 35.

[137] Vgl. Rabinbach 2005 a.a.O. S. 25.

[138] Vgl. Robel a.a.O. S. 47 & 48.

[139] Vgl. Rabinbach 2005 a.a.O. S. 28.

[140] Vgl. Rabinbach 2009 a.a.O. S. 66.

[141] Vgl. Ebd., S. 47.

[142] Vgl. Ebd., S. 55 & 56.

[143] Vgl. Moses a.a.O. S 20 & 21.

[144] Vgl. Semelin a.a.O. S. 342 & 343.

[145] Vgl. Ebd., S. 341,

[146] Vgl. Robel a.a.O. S. 45 & 46.

[147] Vgl. Rabinbach 2005 a.a.O. S. 28.

[148] Vgl. Robel a.a.O. S. 48.

[149] Vgl. Daniel Jonah, Goldhagen, 2009: Schlimmer als Krieg – Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist, München: Siedler Verlag, S. 259.

[150] Vgl. Rabinbach 2009 a.a.O. S. 46.

[151] Vgl. Robel a.a.O. S. 56.

[152] Vgl. Semelin a.a.O. S. 348.

[153] Vgl. Ebd., S. 349.

[154] Vgl. Robel a.a.O. S. 59.

[155] Vgl. Ebd., S. 63.

[156] Vgl. Calic a.a.O. S.76.

[157] Vgl. Robel a.a.O. S. 68.

[158] Vgl. Rabinbach 2009 a.a.O. S.46.

[159] Vgl. Semelin a.a.O. S. 420 & 421.

[160] Vgl. Wieser a.a.O. S.60 & 61.

[161] Vgl. Ebd., S. 61.

[162] Vgl. Ebd., S. 61.

[163] Vgl. Nataša, Tolimir-Hölzl, 2009: Bosnien und Herzegowina – Sprachliche Divergenz auf dem Prüfstand, Studies on Language and Culture in Central and Eastern Europe Band 5, München -Berlin: Verlag Otto Sagner, S. 12.

[164] Vgl. Wieser a.a.O. S. 62.

[165] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 166.

[166] Vgl. Ebd., S. 189.

[167] Vgl. Wieser a.a.O. S. 66.

[168] Vgl. Ebd., S. 69.

[169] Vgl. Ebd., S. 99.

[170] Vgl. Ebd., S. 69.

[171] Vgl. Ebd., S. 70.

[172] Die bosnisch-muslimische Gesellschaft war eine rein patriarchische. Die Eliten waren ausschließlich männlich, deswegen wurde hier auf das inklusive gendern verzichtet

[173] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 188.

[174] Vgl. Wieser a.a.O. S. 68.

[175] Vgl. Ebd., S. 72.

[176] Vgl. Ebd., S. 76.

[177] Vgl. Ebd., S. 72.

[178] Vgl. Ebd., S. 68 & 67.

[179] Vgl. Ebd., S. 67.

[180] Vgl. Calic a.a.O. S. 75.

[181] Vgl. Ebd., S. 78.

[182] Vgl. Ternon a.a.O. S. 305 & 309.

[183] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 173 & 175.

[184] Vgl. Wieser a.a.O. S. 66.

[185] Vgl. Ebd., S. 61

[186] Vgl. Ebd., 67.

[187] Vgl. Ebd., S. 65.

[188] Vgl. Ebd., S. 69.

[189] Vgl. Ebd., S. 99.

[190] Vgl. Ebd., S. 65.

[191] Vgl. Calic a.a.O. S. 78.

[192] Vgl. Wieser a.a.O. S. 60.

[193] Vgl. Ebd., S. 67 & 68.

[194] Vgl. Ebd., S. 67.

[195] Vgl. Ebd., S. 68.

[196] Vgl. Ebd., S. 101 & 102.

[197] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 182.

[198] Vgl. Ternon a.a.O. S. 304.

[199] Vgl. Wieser a.a.O. S. 79.

[200] Vgl. Ebd., S. 83.

[201] Vgl. Ebd., S. 83.

[202] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 186 & Wieser a.a.O. S. 84.

[203] Vgl. Wieser a.a.O. S. 84.

[204] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 172.

[205] Vgl. Wieser a.a.O. S. 66.

[206] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 170.

[207] Vgl. Melic a.a.O. S. 149.

[208] Vgl. Ebd., S. 152.

[209] Vgl. Wieser a.a.O. S. 74.

[210] Vgl. Ebd., S. 71.

[211] Vgl. Ebd., S. 77.

[212] Vgl. Ebd., S. 73 & 74.

[213] Vgl. Ebd., S. 74.

[214] Vgl. Ebd., S. 75.

[215] Vgl. Ebd., S. 75 & 76.

[216] Vgl. Ebd., S. 76.

[217] Vgl. Ebd., S. 79 & 80.

[218] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 186.

[219] Vgl. Wieser a.a.O. S. 80.

[220] Vgl. Ternon a.a.O. S. 309.

[221] Vgl. Melic a.a.O. S. 154.

[222] Vgl. Wieser a.a.O. S. 68.

[223] Vgl. Ebd., S. 68.

[224] Vgl. Ebd., S. 77.

[225] Vgl. Ebd., S. 99.

[226] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 183.

[227] Vgl. Ebd., S. 187.

[228] Vgl. Mojzes a.a.O. xii.

[229] Vgl. Calic a.a.O. S. 78.

[230] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 173.

[231] Vgl. Ebd., S. 189.

[232] Vgl. Ebd., S. 188.

[233] Vgl. Ebd., S. 194.

[234] Vgl. Ternon a.a.O. S. 305.

[235] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 186 & 187.

[236] Vgl. Lemkin a.a.O. S. 79.

[237] Vgl. Wieser a.a.O. S. 100.

[238] Vgl. Mojzes a.a.O.  S. 189.

[239] Vgl. Džihić a.a.O. S. 144.

[240] Vgl. Ebd., S. 151.

[241] Vgl. Ternor a.a.O. S. 295.

[242] Vgl. Robel a.a.O. S. 45.

[243] Vgl. Wieser a.a.O. S. 100.

[244] Vgl. Melic a.a.O. S. 148.

[245] Vgl. Wieser a.a.O. S. 61.

[246] Vgl. Ebd., S. 62.

[247] Vgl. Ebd., S. 63.

[248] Vgl. Ebd., S. 65.

[249] Vgl. Ebd., S. 68.

[250] Vgl. Ebd., S. 69 & 92.

[251] Vgl. Ebd. S. 72.

[252] Vgl. Ebd. S. 73.

[253] Vgl. Ebd., S. 68.

[254] Vgl. Ebd., S. 91 & 93.

[255] Vgl. Ebd., S. 96 & 102.

[256] Vgl. Ebd., S. 97

[257] Vgl. Ebd., S. 104 & 106.

[258] Vgl. Ebd., S. 104.

[259] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 183.

[260] Vgl. Džihić a.a.O. S. 146.

[261] Vgl. Mojzes a.a.O. S. 166.

[262] Vgl. Ternon a.a.O. S. 305.

[263] Vgl.  Melcic a.a.O S. 151.

[264] Vgl. Wieser a.a.O S. 91.

[265] Vgl. Ebd., S. 99.

[266] Vgl. Ebd., S. 113.

[267] Vgl. Mojzes a.a.O S. 190.

[268] Vgl. Ebd., S. 172.

[269] Vgl. Melcic a.a.O S. 147.

[270] Vgl. Wieser a.a.O S. 85.

[271] Vgl. Mojzes a.a.O S. 190.

 

Veröffentlicht unter Europa, Kampf gegen den Braunenscheißdreck, Politikwissenschaft, Sozialwissenschaft, Studium, Wissenschaft | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | Kommentar hinterlassen

Die Stellung des Alien im Kosmos

Max Schelers philosophische Anthropologie angewendet an „neuen“ und potenziellen Lebewesen

 

Max Scheler und die philosophische Anthropologie

 

Was macht den Menschen aus? Was ist der Mensch? Was unterscheidet den Menschen von allem anderen? Diese Fragen, in variablen Formen, beschäftigen die Menschen und somit die Philosophie schon sehr lange. Selbst im der alten Griechenland wurde sie gestellt und die Antwort sahen die Philosophen im Logos, dem Verstand. Mit dem Siegeszug des Christentums in Europa, aus dem Judentum kommend, wurde die Idee eines Schöpfergottes immer populärer und damit der Glaube an den Menschen als Abbild und höchste Schöpfung Gottes. Die Philosophie beschäftigte sich mit beiden Vorstellungen und tendierte mal mehr zur einen und mal mehr zur anderen. Max Scheler, ein Philosoph und Soziologe, widmete sich am Anfang des 20. Jahrhunderts auch der Frage nach dem Menschen. Er stellte fest, dass in Europa drei widersprüchliche Vorstellungen über den Menschen sehr populär waren und oft gleichzeitig in einer Person existierten. Die zwei schon genannten und eine dritte, modernere, die den Menschen als ein Naturwesen, als Wesen der tierischen Evolution, definierte. Für ihn musste sich dieser Widerspruch auflösen und die ganze Frage nach dem menschlichen Sein von vorne beginnen. Es fehlte ein einheitliches Menschenbild und dies war dem Menschen nun auch bewusst. Dies ermöglichte zum ersten Mal eine unvoreingenommene, auf Ergebnissen unterschiedlicher Teildisziplinen der Wissenschaft aufbauende, Suche nach der Stellung des Menschen im Kosmos.[1]

Dies war auch der Titel eines kompakten Buches, basierend auf einen Vortrag, welches kurz vor Schelers frühen Tod 1928 erschien. Es sollte nur eine  komprimierte Zusammenfassung und ein Vorläufer eines größeren Werks über die philosophische Anthropologie sein.[2] Obwohl er sein Werk nicht vollendete,  gilt er als (Mit)Begründer dieses neuen Forschungsfeldes.[3] Scheler sah die Notwendigkeit einer philosophischen Anthropologie nicht nur wegen der widersprüchlichen Menschenbilder, sondern auch weil er das traditionelle Selbstverständnis des Menschen im Ganzen erschüttert sah. Die philosophische Anthropologie war für ihn ein Versuch der Selbstvergewisserung nach einem Identitätsverlust.[4] Nach der Christianisierung der europäischen Philosophie war diese drei großen Erschütterungen ausgesetzt: 1. Das geozentrische Weltbild wurde widerlegt. 2. Das Aufkommen der naturwissenschaftlichen Forschung und damit die Biologie des Menschen als Teil der Evolution. 3. Entdeckung des Unbewussten bei Freud und damit die Widerlegung der inneren Einschätzung des Menschen als Grundlage allgemeingütiger Erkenntnisse.[5] Scheler wollte die Philosophie aus ihrer mystisch-religiösen Vergangenheit lösen[6] und eine neue Menschvorstellung ohne einen Gottesbezug entwickeln.[7] Dabei soll die philosophische Anthropologie die Aufgabe eines philosophischen Unterbaus für die anderen Felder der Anthropologie übernehmen und empirische Befunde über den Menschen und das Leben philosophisch deuten. Das Ziel war es, auf der einen Seite die Philosophie auf den neusten wissenschaftlichen Stand zu bringen[8], auch wenn diese als Überblickswissenschaft immer den Spezialwissenschaften hinterher hinken würde [9], und auf der anderen Seite die naturalistische Einseitigkeit der Anthropologie aufzuheben.[10]

Dies war die erste Aufgabe der anthropologischen Philosophie für Scheler, die zweite war die Beantwortung der Frage nach der menschlichen Identität.[11] Um diese überhaupt beantworten zu können, musste ein Bruch mit der philosophischen Tradition stattfinden, welcher er auch vollzog.[12] Dabei lehnte er fünf Ideen über den Menschen ab: 1. Die jüdisch-christliche als Gottes Abbild 2. Die griechisch-antike mit der Vernunft im Mittelpunkt 3. Die naturalistisch-positivistische 4. Die romantisch-pessimistische mit der Vernunft als Sackgasse des Lebens und der Verherrlichung des Triebes. 5. Nietzsches Übermensch.[13] Es blieb keine klassische Argumentation mehr übrig, um die Sonderstellung des Menschen zu rechtfertigen bzw. überhaupt die Stellung des Menschen im Sein festzustellen. Nun gab es zwei mögliche Konsequenzen: Die erste wäre eine rein biologische Unterscheidung zwischen Menschen und anderen Lebewesen, welche bei einem Mensch-Tier-Vergleich keine harten Grenzen finden könnte[14]. Dann gäbe es keine Sonderstellung des Menschen. Diese Vorstellung lehnt Scheler als destruktiv ab.[15] Denn von einer Sonderstellung des Menschen gehen Scheler und die philosophische Anthropologie aus.[16] Die andere mögliche Konsequenz wäre, ganz von vorne zu beginnen und die unterschiedlichen Lebensformen erneut zu untersuchen und die Unterschiede zwischen diesen und den Menschen neu zu formulieren.

Aktualität Schelers Denken: neue Lebensformen

 

Arnold Gehlen, der Scheler in vielen Punkten kritisierte, sah dessen Genialität in der Erschaffung etwas Neuem, was sehr selten in der Philosophie vorkommt.[17] Schelers Dekonstruktion der philosophischen Vorstellungen über den Menschen war zu seiner Zeit notwendig und überfällig. Die gesamte philosophische Anthropologie baut auf Schelers Forschung auf und hat eine hoch philosophisch geschichtliche Bedeutung. Dies gab auch Gehlen zu.[18] Dabei waren Schelers Schriften immer etwas Dynamisches, voller unvollendeter Gedankengänge, die bewusst so angelegt waren, damit Leser*innen wie auch Scheler selbst weiter denken konnten.[19] Scheler war es wichtig, die Aktualität in sein Denken mit einzubeziehen, denn nur dann könne Philosophie die Realität behandeln und verstehen.[20] Diese Aktualität macht die Philosophie und auch Schelers „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ angreifbarer[21], allerdings sind genau solche Arbeiten wichtig um die Philosophie weiterzuentwickeln.

Max Schelers philosophische Anthropologie hat nichts an dieser Aktualität eingebüßt. Die Frage nach der Stellung des Menschen ist sogar noch aktueller denn je. Oder besser ausgedrückt: Die Menschen werden sich in nicht allzu ferner Zukunft dieser Frage wieder stellen müssen. Scheler wollte wissen, was den Menschen von anderen Lebensformen, grob vereinfacht von Pflanzen und Tieren, unterscheidet. Die aktuelle und zukünftige Menschheit muss diesen Vergleich mit potenziellen „neuen“ Lebensformen durchführen.  Dabei geht es weniger um eine Einzigartigkeit des Mensch, sondern vielmehr darum, ab wann etwas ein Mensch/menschähnlich  ist und ab wann nicht mehr.  Den Status „Mensch“ zu haben, hat gesellschaftlich große Auswirkungen und ist mit vielen Rechten wie auch Pflichten verbunden. „Neuen“ bzw. potenziellen Lebensformen dies ab- bzw. zuzusprechen hat unter anderem moralische und rechtliche Konsequenzen.  Wie sehen diese „neuen“ oder potenziellen Lebewesen aus? Dabei ist die Definition des Begriffes Lebewesen eher zweitranging. Es geht um (mögliche) Konstrukte, welche potenziell menschenähnlich sein können. Dies beinhaltet von Menschen geschaffene anorganische „Wesen“ wie Roboter, Androiden und Computer. Zwar kann ihre Zusammensetzung aus anorganischem Material als Argument gegen ihrer Einteilung als Lebewesen genutzt werden, aber wenn die Bestandteile aus organischen Material[22] geschaffen werden, wird deutlich wie schwach und schwierig eine solche Unterscheidung zu Lebewesen ist. Diese Unterscheidung könnte sein, das diese von Menschen geschaffen sind, aber auch dieses Argument ist haltlos, wenn die Klon-Thematik betrachtet wird. Zwar werden Klone bis jetzt auch geboren, was sie zu Robotern etc. unterscheiden, aber die Entwicklung künstlicher „Gebärmütter“ wird auch dies verändern können.[23] Ist ein geklonter Mensch ein Mensch, auch wenn er nicht natürlich geboren wurde? Noch schwieriger wird die Fragestellung bei Cyborgs, also Menschen die künstliche Bestandteile haben, Mensch-Maschinen Hybride. Bei Herzschrittmachern oder Cochlea Implantaten wird die Definition als Mensch noch nicht hinterfragt, aber wo ist die Grenze? Ab wie viel Prozent künstlichen Anteilen handelt es sich nicht mehr um einen Menschen? Wie verhält es sich wenn die künstlichen Bestandteile aus organischem Material mit Hilfe eines 3D-Druckers entstanden sind?[24] Wie sieht es mit potenziellen Lebewesen aus, erschaffen vom Menschen, die körperlos sind bzw. deren Körper austauschbar oder so vielteilig sind, dass eine direkte Zuordnung zu einer festen Hülle nicht möglich ist? Beispiele dafür sind künstliche Intelligenzen oder Computernetzwerke (Programme). Die letzte zu untersuchende Gruppe ist die, der nicht vom Menschen erschaffenen potenziellen Lebewesen. Diese könnten auch unbekannte irdische Lebewesen sein, deren Existenz sehr unwahrscheinlich ist. Die Existenz außerirdischen Lebens, auch intelligenten Leben, hingegen ist mathematisch sehr wahrscheinlich, auch wenn ein wirklicher Kontakt in absehbarer Zukunft nicht stattfinden wird.[25] Aber ab wann würden den sogenannten Aliens Menschenrechte zugesprochen? Mit dem heutigen Wissen über den Kosmos, dem technischen Fortschritt und Überlegungen über potenzielle Entwicklungen, wird die Frage darüber, was den Menschen auszeichnet wieder aktuell. Die Kontroverse, ab wann ein Lebewesen Mensch(ähnlich) ist oder es den Status „Mensch“ verliert, ist eine schwere. Max Schelers Überlegungen zur Sonderstellung des Menschen kann ein Zugang zur Auflösung dieser sein.

Die Konsequenzen des Gewinns oder dem Verlust der Zuordnung als Mensch(ähnlich) werden nicht betrachtet, sondern welche Kriterien erfüllt werden müssen, damit potenzielle oder „neue“ Lebewesen Anteil haben an der Sonderstellung des Menschen. Ausgeklammert wird auch die Diskussion wie diese Lebewesen diese Kriterien erfüllen können.

 

Metaphysik und philosophische Anthropologie: Die Welt des Menschen

 

Max Scheler folge der zweiten möglichen Konsequenz der Widerlegung der Menschenbilder, nämlich die erneute Untersuchung der Unterschiede der Lebewesen. Dabei versuchte er den kleinsten gemeinsamen Nenner, welcher alles Leben teilt, zu finden. Dies fand er am deutlichsten in der Pflanze.[26] Er erkannte dabei, dass es verschiedene Stufen des Lebendigen gibt. In der ersten ist charakterisierend der Gefühlsdrang, dort existieren kein Bewusstsein, keine Vorstellungen oder ähnliches. Dort kann nur die Fortpflanzung und das Wachstum beobachtet werden. Diese Stufe ist die Grundlage alles Lebendigen. Stufe zwei ist der Instinkt. Hier ist das angeborene und vererbte Verhalten, welches zu Arterhaltung dient, angesiedelt. Diese Stufe erreichen alle Tiere. Die dritte Stufe, dem assoziativen Gedächnis, findet sich nur bei höheren entwickelten Tieren. Hier  werden Gewohnheiten entwickelt die das Leben erleichtern. Das Verhalten verändert sich anhand von „Feedback“. Das Prinzip von „Trial and Error“ wird vom Lebewesen angewendet. Die letzte Stufe ist die der praktischen Intelligenz. Dort kommt es zu sinnvollen Reaktionen auf neue Situationen. Auch die Wahlfreiheit ist hier angesiedelt.[27] Der Mensch hat all diese Stufen des Lebendigen, ist aber selbst auf der letzten nicht alleine. Auch andere hoch entwickelte Säugetiere haben praktische Intelligenz. Eine Sonderstellung kann davon nicht abgeleitet werden.[28]

Die Unterscheidung sieht Scheler darin, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist welches nicht nur eine Umwelt besitzt, sondern auch eine Welt. Das Tier hingegen ist „Umweltgebunden.“[29] Der Mensch kann sich, im Gegensatz zum Tier, von seiner eigener Umwelt und seinen Trieben lösen.[30] Diese Fähigkeit nennt sich die „Weltoffenheit“ des Menschen. Sich von der Abhängigkeit des organischen Körper zu lösen.[31] Dies ist der Punkt bei dem Schelers philosophische Anthropologie in die Metaphysik übergeht. Die „Stellung des Menschen im Kosmos“ ist somit auch Teil Schelers Metaphysik.[32] Gehlen kritisiert den Einfluss der Metaphysik in Schelers Gedanken.[33] Paul Good sieht diese Kritik als haltlos, besonders weil Gehlen nicht argumentativ belegt, warum die philosophische Anthropologie ohne Metaphysik auskommen müsse und warum die Metaphysik Schelers Gedankenmodell in diesem Fall schaden würde.[34] Der Mensch kann sich nämlich die Natur vergegenständlichen. Somit kann er sich selbst nicht mehr als Teil dieser betrachten.[35] Das Zentrum muss somit außerhalb des Lebens liegen.[36] Dies ist nach Scheler das Personenzentrum, welches selbst gegenstandsunfähig ist und das Aktzentrum des Geistes.[37]

Geist ist für Scheler mehr als nur Intelligenz, Vernunft und ähnliches, obwohl all diese Teile davon sind.[38] Der Geist ist für ihn das Spezifische des Menschen[39] Dieser besteht aus Geist und den vier Stufen des Lebendigen, dem Drang. Dies muss aber als Einheit gesehen werden und nicht als Zusammenspiel zweier einzeln zu betrachtender Teile.[40] Den Dualismus nach Descartes lehnt Scheler ab.[41] Der Drang ist notwendig für den Menschen als Antrieb für den Geist.[42] Der Geist hat aus sich heraus keine Kraft und ist machtlos. Mit Hilfe der Sublimierung, eine indirekte Lenkung des Dranges, kann der Geist aktiv werden.[43] Die Metaphysik Schelers philosophischer Anthropologie ist aber nur bedingt notwendig für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, und deswegen wird der Exkurs in diese nicht weiter vertieft.

Wichtiger sind die Konsequenzen aus der Existenz des Geist, welches den Menschen und das Tier unterscheidet, also die Suche nach den Monopolen des Menschen.[44] Der Mensch ist fähig zu einem geistigen Interesse, besitzt somit eine Art Neugier.[45] Er kann auch seine eigenen Zustände vergegenständlichen, hat ein Selbstbewusstsein. Das Tier kann eigene Zustände zwar wahrnehmen, dies passiert aber nicht bewussst.[46] Eine aufgezeichnete Geschichte ist nur bei dem Menschen bekannt und möglich. Dies ist bei Scheler die Unterscheidung von Tradition und Überlieferung. Ersteres trifft auch bei Tieren auf und benötigt keine geistige Abstraktion. Die Überlieferung hingegen ist ausschließlich menschlich.[47] Sich von sich selbst lösen beinhaltet auch die Möglichkeit insgesamt sich vom Leben zu lösen. Diese Fähigkeit fehlt dem Tier. Es muss immer das Leben und somit auch das Leiden bejahen. Als einziges bekanntes Lebewesen kennt der Mensch den Selbstmord.[48] Der Mythos sich kollektiv umbringender Lemminge ist zwar weitverbreitet, aber widerlegt.[49]

 

Die Sonderstellung des Alien

 

Die Sonderstellung des Menschen im Kosmos ist eine vorrübergehende. Scheler stellte sich die Frage weiterer Lebewesen kaum. Aber er lehnte auch nicht die Existenz weiterer Geisterwesen ab. Selbst seine Definition des werdenden Gottes basiert auf dieser Einteilung.[50] Die Einzigartigkeit des Menschen ist nur zeitlich beschränkt bis wir weitere Lebewesen entwickeln oder kennenlernen, die auch Geist und Drang in sich vereinen. Scheler lehnte eine Definition des Menschen ab. Es ist sogar unmöglich. Er geht so weit, dass ein definierter Mensch keine Bedeutung hätte.[51] Somit entkoppelte er das Menschsein teilweise von der Entstehung und der Zusammensetzung des Körpers. Ein Mensch muss nicht natürlich geboren oder 100 Prozent organisch sein um als Mensch zu gelten. Ein Klon ist somit immer ein Mensch, auch aus einer künstlichen Gebärmutter. Der Cyborg hingegen ist ein wenig schwieriger, da der Geist nicht körperlich verortbar ist. Der Austausch der meisten Körperteile oder Organe, wie auch die mechanischen Erweiterungen, sollte aber Drang und Geist nicht gefährden. So kann jeder heute existierende und fast alle potenziellen Cyborgs Menschen genannt werden. Bei Robotern und Computern stellt sich die Frage, ob sie Menschen sind nicht, aber doch, ob sie menschähnlich sein können. Aber selbst diese ist verfrüht. Zunächst müssen diese nämlich nach Scheler lebendig sein um überhaupt den notwendigen Drang zu haben. Lebendig ist etwas schon, wenn der Gefühlsdrang existiert, also auch eine Fortpflanzung und Wachstum. Um einen menschenähnlichen Drang haben zu können, müssen aber noch die anderen drei Stufen des Seins erreicht werden. Roboter und Computer brauchen somit Instinkt, assoziatives Gedächtnis und praktische Intelligenz und erst dann kann die Frage der „Weltoffenheit“ gestellt werden. Bei Androiden ist dies auch der Fall. Hier ist die Problematik, dass es sich hier um Roboter handelt, welche dem Menschen nacherfunden werden. Die Grenze zum Menschen kann hier verschwimmen, besonders wenn der Android organische Bestandteile hat. Cyborgs und Androiden können dann nur noch anhand ihres Ursprungs unterschieden werden. Aber ob Androide nur menschähnlich oder doch auch Mensch sein können, ist mit Schelers philosophischen Anthropologie nicht zu beantworten. Ob und wie weit künstliche Intelligenzen, Programme oder Netzwerksysteme als potenziell menschähnlich gesehen werden können, wird auch mit Scheler nur unzureichend beantwortet. Die ausschlaggebende Fähigkeit, welche den Menschen zum Geisteswesen macht, ist das Lösen von der Abhängigkeit des Körpers. Zwar besitzt diese Gruppe potenzieller Lebewesen „Körper“, diese sind aber sehr austauschbar und beliebig erweiterbar. Ob es hier zu einem körperbezogenen Drang kommen kann ist fraglich. Da ein Geist aber ohne Drang nicht existieren kann, ist es nach Scheler dann nicht möglich sie als menschähnlich zu verstehen. Scheler würde ihnen dann auch jegliche Lebendigkeit absprechen. Unbekannte irdische und außerirdische Lebewesen wären per Definition schon mindestens auf der Stufe des Gefühlsdrangs. Auch die restlichen Stufen sind universal gedacht. Das auf einem Planeten eine der Stufen ausgelassen wird oder neue Stufen hinzukommen, ist schwer vorstellbar. Ob Aliens sich von der Welt lösen können und eine Einheit von Geist und Drang bilden, kann ohne Kommunikation mit ihnen nur Anhand von Beobachtungen erahnt werden. Zeigen sie eine geistige Neugierde bzw. betreiben Forschung? Existiert bei ihnen ein Selbstbewusstsein? Dies gäbe ihnen die Fähigkeit ihren eigenen Zustand zu beschreiben und zu deuten. Besitzen sie eine Überlieferung und nicht nur Traditionen? Schriftzeichen oder auch Kunst wären sichtbare Kennzeichen dafür. Tritt bei den Alien das Phänomen der Selbsttötung, also die Verneinung von Leben und Leiden auf?

Martin Heidegger, ein nicht gerade unbekannter Philosoph, hielt zu Beginn des Sommersemesters 1928 vor seiner Vorlesung einen Nachruf auf Max Scheler. Er trauerte um einen Menschen, aber auch um einen großen, außergewöhnlichen Philosophen, dessen Wesen unter anderem durch die Totalität seines Fragens, aber auch der Witterung für neu aufbrechende Möglichkeiten geprägt war.[52] Scheler selbst sah das Menschenbild wahrscheinlich nicht bedroht durch andere oder potenzielle Lebewesen, trotzdem  kann seine philosophische Anthropologie in diese Diskussion angewandt werden. Dies lässt die Genialität und Aktualität Schelers Philosophie erkennen und lässt einen auch heute noch seinen frühen Tod bedauern. Es zeigt aber auch, dass Heideggers Einschätzung am Ende seines Nachrufs falsch war. Er sah den Rückfall eines Weges der Philosophie ins Dunkel, aber selbst heute kann Scheler den Weg zu neuer Erkenntnis leuchten.

Scheler lag aber unwissentlich mit dem Titel seines Buches daneben. Es ist nämlich mit dem Aliensein so ähnlich wie mit dem Status als Ausländer, fast überall ist jeder Mensch einer.

[1] Vgl. Max, Scheler,  2010: „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ Nach der 3. Durchges. Auflage 1995 der Gesammelten Werke Bd. IX, Manfred Frings (Hrsg.), Bonn: Bouvier,  S. 7.

[2] Vgl. Hans Joachim, Schoeps, 1975: „Die Stellung des Menschen im Kosmos“, in Max Schler – Im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, S. 189-197, Paul Good (Hrsg.), Bern: Francke, S. 190;

Manfred, Frings, 1981: „Max Scheler: Drang und Geist“, in Grundprobleme der großen Philosophen – Philosophie der Gegenwart II, 2. Ergänzte Auflage, S. 9-42, Josef Speck (Hrsg), Göttinggen: VTB Vandenhoeck & Ruprecht, S. 15;

Heinz, Leonardy, 1994: „Es ist schwer, ein Mensch zu sein – Zur Anthropologie des späten Scheler“, in Phänomenologische Forschung 28/29  Studien zur Philosophie von Max Scheler – Internationales Max Scheler Colloquium: Der Mensch im Weltalter des Ausgleich – Universität zu Köln 1993, S. 70-93, Ernst Wolfgang Orth und Gerhard Pfafferott (Hrsg.), Freiburg/München: Karl Alber, S. 72.

[3] Vgl. Angelika, Sander, 2001: „Max Scheler – zur Einführung“, Hamburg: Junius, S. 8 & S. 119,

Hein, Von Alemann, 1994: „Helmut Plessner, Max Scheler und die Enstehung der Philosophischen Anthropologie in Köln – Eine Skizze“, in Phänomenologische Forschung 28/29  Studien zur Philosophie von Max Scheler – Internationales Max Scheler Colloquium: Der Mensch im Weltalter des Ausgleich – Universität zu Köln 1993, S. 10-34, Ernst Wolfgang Orth und Gerhard Pfafferott (Hrsg.), Freiburg/München: Karl Alber, S.10 -11.

[4] Vgl. Sander S. 120

[5] Vgl. Ram Adhar, Mall, 1994: „Schelers Idee einer werdenden Anthropologie und Geschichtsteleologie“, in Phänomenologische Forschung 28/29  Studien zur Philosophie von Max Scheler – Internationales Max Scheler Colloquium: Der Mensch im Weltalter des Ausgleich – Universität zu Köln 1993, S. 35-69, Ernst Wolfgang Orth und Gerhard Pfafferott (Hrsg.), Freiburg/München: Karl Alber, S. 36 – 37;

Paul,  Good, 1998: „Max Scheler – Eine Einführung“, Düseldorf/Bonn: Parerga, S. 81.

[6] Vgl. Mall S.36.

[7] Vgl. Sander S. 122, Schoeps S. 190.

[8] Vgl. Sander S.123.

[9] Vgl. Leonardy S. 77.

[10] Vgl. Schoeps S. 190.

[11] Vgl. Sander S. 123.

[12] Vgl. Sander S. 124.

[13] Vgl. Good S. 51.

[14] Vgl. Sander S. 126.

[15] Vgl. Sander S. 128.

[16] Vgl. Sander S. 125.

[17] Vgl. Gehlen S. 184.

[18] Vgl. Gehlen S. 188.

[19] Vgl. Paul, Good , 1975: „Vorwort“, in Max Scheler – Im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, S.  7-8, Paul Good (Hrsg.), Bern: Francke, S. 7.

[20] Vgl. Leonardy S. 92.

[21] Vgl. Sander S. 12.

[22] Ein Beispiel wäre: Ayleen, Schweiß, Cyborg mal anders: Roboter mit organischen Muskeln, heise online, 19 Juli  2016, http://www.heise.de/newsticker/meldung/Cyborg-mal-anders-Roboter-mit-organischen-Muskeln-3272431.html, Zuletzt Aufgerufen am: 30.09.2016

[23] Vgl. Marie, Mandy, Die künstliche Gebärmutter – Maschine statt Mama, arte, Frankreich 2010, https://www.youtube.com/watch?v=bVh35pDmvp0, Zuletzt Aufgerufen am: 30.09.2016.

[24] Dennis Kluge, Revolution in der Medizin? Das Herz aus dem 3D-Drucker, n24.de, 22 November  2013, http://www.n24.de/n24/Wissen/Gesundheit/d/3881284/das-herz-aus-dem-3d-drucker.html , Zuletzt Aufgerufen am: 30.09.2016

[25]Florian Freistetter, Wie wahrscheinlich ist die Existenz von Aliens?, scienceblogs, 28 September 2013, http://scienceblogs.de/astrodicticum-simplex/2013/09/28/wie-wahrscheinlich-ist-die-existenz-von-aliens/, Zuletzt Aufgerufen am: 30.09.2016

 

[26]Jan H., Nota S. J., 1995: „Max Scheler Der Mensch und seine Philosophie“. Friedingen a.D.: Börsig. S. 166.

[27] Mall S.  49 -50, Good 52 -53, Nota S. 166-167

[28] Mall S. 50, Schoeps S. 190, Good S. 52.

[29] Vgl. Mall S. 51, Nota S. 167.

[30] Vgl. Sander S. 132, Schoeps S. 191.

[31] Vgl. Sander S. 137, Mall S. 51 & 53;

Arnold, Gehlen, 1975: „Rückblick auf die Anthropologie Max Schelers“, in Max Scheler – Im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, S. 179-188, Paul Good (Hrsg.), Bern: Francke, S. 184.

[32] Vgl. Sander S. 135; Gehlen. S. 179.

[33] Vgl. Gehlen S. 179 & 180.

[34] Vgl. Good S. 51-52.

[35] Vgl. Sander S. 137, Mall S. 53, Gehlen S. 182 -183.

[36] Vgl. Mall S. 51, Gehlen S. 180.

[37] Vgl. Mall S. 52, Nota S. 170, Frings S. 12, Schoeps S. 191, Good S. 53.

[38] Vgl. Mall S. 51, Schoeps S. 190.

[39] Vgl. Mall S.51.

[40] Vgl. Sander S.138, Leonardy S.89.

[41] Vgl. Leonardy S.88, Sander S. 129, 130 & 136, Good S. 51, Frings S. 27.

[42] Vgl. Leonardy S. 87, Gehlen S. 181, Nota S 168, 170 & 171.

[43] Vgl. Good S. 52 – 54.

[44] Vgl. Sander S. 140.

[45] Vgl. Sander S.140, Gehlen S. 185.

[46] Vgl. Mall S. 53, Nota S. 167.

[47] Vgl. Gehlen S. 187.

[48] Vgl. Nota S. 172, Gehlen S. 183 & 185, Schoeps S. 191 -192.

[49] Kollektiver Selbstmord der Lemminge: Disney-Erfindung oder Tatsache?, daswissenblog.de, http://www.daswissensblog.de/kollektiver-selbstmord-der-lemminge-disney-erfindung-oder-tatsache//, Zuletzt Aufgerufen am: 30.09.2016.

[50] Vgl. Leonardy S. 71.

[51] Vgl. Sander S. 137.

[52] Vgl. Martin, Heidegger, 1975: „Andenken an Max Scheler“ Nachruf von 21. Mai 1928, in Max Scheler – Im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, S.  9, Paul Good (Hrsg.), Bern: Francke.

Veröffentlicht unter Philosophie, Studium, Wissenschaft | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | Kommentar hinterlassen

Brief an Ulrike

Liebe Ulrike,

Ich schreibe dir diesen Brief, weil ich sonst keine Möglichkeit habe mit dir zu reden. Ja, Ich weiß, ich rede nun auch nur mit mir selbst, aber das ist doch egal. Dir ist es auf jeden Fall egal. Seit du weg bist hat sich viel verändert und irgendwie ist auch alles gleich geblieben. Die Menschen sind immer noch dumm und ich habe auch immer noch nicht meinen Bachelor. Ich „arbeite“ zwar schon an dem zweiten aber noch nicht intensiv genug. Das erste habe ich irgendwie aufgegeben. Ich bin kein Politiker mehr. Ich bin nur noch Politikwissenschaftler und das bin ich auch noch nicht richtig. Ich bin aus gutem Grund vor einem Jahr aus der Piratenpartei ausgetreten, innerlich war ich ja Monate lang kein Mitglied mehr. Aber ich habe es dann erst gemacht, weil du mich erkennen lassen hast, dass alles aufschieben einfach nichts bringt. Immer wieder hast du gesagt, ich soll den Haufen endlich hinter mich lassen. Und immer wieder sagte ich: „Warte noch, ich will dazu noch was schreiben“ Aber ich schrieb einfach nichts, wie typisch für mich die letzten Jahre. Ja, dazu will ich was schreiben und das möchte ich noch ausarbeiten. Und was passiert? Nichts. Mein Blog ist seit Jahren nur noch ein Platz wo ich meine Uniarbeiten veröffentliche. Und selbst da bin ich inkonsequent. Hier liegt immer noch ein Bericht über meine Ukraine-Exkursion. Der Text ist sogar Korrektur gelesen und mit Bildern. Immer noch nicht hochgeladen. Ich konnte dir ja leider nicht mehr davon erzählen, das waren beeindruckende zwei Wochen. Aber auch so habe ich das letzte Jahr viel gesehen. Ich habe ein Auslandssemester in Slowenien hinter mir und war in Kroatien, Bosnien und in Bulgarien. Mit der Ukraine-Erfahrung zusammen haben mich diese „Reisen“ weiter gebracht. Ich fühle mich mit meinem Studienschwerpunkt nun wohler und ich glaube auch, dass ich nun vieles besser verstehe. Selbst mein Bachelorarbeitsthema hängt nun damit zusammen. Ich werde über den Völkermord in Bosnien schreiben. Ein schweres Thema, da es für mich unbegreifbar ist, dass es so kurz nach der Schoah innerhalb Europas wieder zu so etwas kommen konnte. Ich bin mir sicher du könntest mir viel dazu erzählen, du warst ja damals schon voll im Leben und politisiert. Ich war noch nicht mal in der Schule. Oft habe ich das Gefühl, dass ich viel zu wenig weiß über dein Leben, obwohl wir doch viel in den letzten Jahren gesprochen haben. Ich glaube, da wäre noch so viel spannendes was ich nun nie erfahren werde. Ich habe immer das Gefühl du hättest so viel „erfolgreicher“ sein können, aber du standst dir so oft im Weg. Ich glaube da ähneln wir uns, nur, dass du halt einfach ein sehr zynischer  Mensch warst. Aber du hast trotzdem immer an eine Zukunft geglaubt. Du hast bis zum Ende für Frauenrechte gekämpft. Du warst eine unglaubliche Feministin und du hast mich auch viel beeinflusst. Aber dies war ja nie „unser“ Thema. Es war das Bedingungslose Grundeinkommen. Wir machten uns in den letzten Jahren zu Experten*innen und ich träumte ja schon mit dir ein Buch darüber zu schreiben… Ja, dazu ist es halt doch nicht gekommen. Schon wieder das mit dem allen aufschieben. Tolle Ideen bringen halt einfach nichts, wenn sie nicht umgesetzt werden (oder wenigstens versucht werden). Das mit dem BGE ist irgendwie echt im Trend. Immer mehr Menschen haben davon gehört und immer mehr Menschen setzten sich dafür ein. Und unsere Facebookseite bekommt auch immer mehr likes. Nur posten wir nichts darauf. Wir? Ja Erich und ich. Erich ist nun Vater und immer noch in Wien. Ich habe ihn auch ewig nicht mehr gesehen. Ich glaube aber, dass es ihm gut geht. So ist es aber irgendwie mit vielen der (Ex-)Piraten. Irgendwie waren sie so lange fester Bestandteil meines Lebens und nun sehe ich viele einfach sehr selten. Ich weiß du mochtest einige nicht und besonders deine Kritik hat so oft zugetroffen. Ich denke immer noch an die tollen Zeiten zurück, aber ich glaube es ist auch ganz gut dass es vorbei ist. Aber ohne die Piraten wäre ich nicht der Mensch der ich bin. Und ohne sie hätte ich auch nie angefangen mit dir zu arbeiten. Wieder zurück zum BGE. Ich mache überhaupt nichts mehr in diese Richtung. Ich finde nicht die Motivation, nicht die Partner*innen und auch irgendwie nicht die Zeit. Ich nehme mir es schon vor es nochmal in die Hand zu nehmen. Aber ich glaube das wird einfach nicht passieren. Ich will mir auch schon seit langem mal die Grünen und die Linkspartei näher und live anschauen. Ich hadere aber immer noch mit diesen Schritt. Weil ich mich weder entscheiden kann noch glaube, dass ich Zeit haben werde wieder politisch aktiv zu werden. Am liebsten würde ich immer noch eine Partei gründen. Aber es gibt keine Aufbruchsstimmung, nicht dieses eine Momentum was so wichtig ist. Und ja Parteigründung ist halt auch ein scheiß Job. Und da müsste eins ja mal wieder was tun und nicht nur reden. Vielleicht braucht die Welt mich als Politiker auch einfach nicht. Wenn wir schon bei Parteien und Politik sind: Die AFD gibt es immer noch und sie ist auch noch viel beschissener. Damals waren sie ja ein undefinierter Haufen von konservativ über nationalistisch bis hin zu neoliberal. Jetzt sind sie weniger neoliberal, dafür aber mehr offen rassistisch. UND sie sind echt erfolgreich mit der Scheiße. Ich dachte, so blöd können die Menschen doch nicht sein, aber es lassen sich so viele aufhetzen. Dich würde es sicher freuen, dass es mal wieder hauptsächlich alte Männer sind, aber eigentlich ist das gar nicht so lustig. Ich werde ja auch mal ein alter Mann. Auch so ist es in der Welt ziemlich erschreckend. In Österreich haben fast 50% der Wähler*innen einen FPÖ-Kandidaten gewählt, Donald Trump hat wirklich realistische Chancen Präsident der USA zu werden und auch sonst so scheinen Demokraten*innen auf der ganzen Welt zu denken: Scheiß auf Demokratie, Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Toleranz, Bildung, Arme, Umweltschutz, Wissenschaft, Logik, Solidarität und und und…. Die Demokratie versucht vieler Orts sich selbst abzuschaffen. Soweit sind wir in Deutschland noch nicht und ich habe auch keine Angst, dass dies passiert. Aber ich war ja schon viel zu oft viel zu optimistisch. Der Krieg in Syrien und Irak geht immer noch weiter und immer noch sterben täglich Menschen. Aber nicht nur wegen Assad oder dem IS. Auch wegen der Türkei, die angebliche kurdische „Terroristen“ im eigenen Land aber auch in Syrien bombardiert. Es herrscht ein türkischer Bürgerkrieg und als Verbündete sehen wir zu. Klar, es wird schon immer mal ein mahnendes Wort eines*r deutschen Politiker*in an Erdogan und Co. Geschickt, aber diese Worte gibt es ja schon seit Jahren auch an China oder Saudi Arabien. Und da ändert sich auch nichts. Ich bin froh, dass ich kein Diplomat bin. Entweder müssen die alle kein Rückgrat oder Meinung haben, oder sie denken sie arbeiten für ein höheres Ziel. Den Frieden. Ach diese tödlichen Kompromisse. Du hast sie auch gehasst. Zurück zum Sterben. „Wir“, also die europäische Union, engagieren uns da auch ganz gut in diesem Feld.  Wir schaffen keine (kaum) legalen Wege um Menschen auf der Flucht eine Möglichkeit zu geben Schutz  bei uns zu suchen. Sie ertrinken zu tausenden auf ihren „illegalen“ Überquerungen durch das Mittelmeer. Und wenn sie dann da sind? Fast überall nur Hass und Missgunst. Aber ich treffe immer mehr Menschen, die sich einsetzten. Für eine Welt, die dir auch gefallen würde. Diese Menschen machen großartige Arbeit überall in Europa und auch vieler Orts in Deutschland. Selbst in einem so kleinen Ort wie in Bad Abbach helfen viele den Geflüchteten. Auch meine Eltern machen wirklich viel. Sie waren beide die letzten Jahre nicht wirklich gesellschaftlich aktiv und es ist sehr beeindruckend was sie alles leisten. Ich besuche manchmal den wöchentlichen Stammtisch und habe schon ein paar syrische Freunde. Aber mehr mache ich auch hier nicht. Ich sage immer ich darf auch mal Pause machen. Diese Pause dauert nun halt schon einige Jahre und ich verstehe langsam dieses in das Private zurückziehen. Es ist halt einfacher, schöner und so viel entspannter. Es wird halt einfach nichts besser. Irgendwie beschwere ich mich nur. Aber das zeigt ein falsches Bild. Eigentlich geht es mir ziemlich gut. Ich bin immer noch jung. Soweit ich weiß gesund. Ich habe noch genug Haare am Kopf und mein Körper kann ich immer noch ganz gut anschauen. Auch habe ich das letzte Jahr viele neue tolle Menschen kennen gelernt. Begegnungen die ich nicht missen möchte. Ich habe natürlich immer noch Menschen, die ich schon lange in meinem Leben und Herzen habe. Ich bin jeden Tag wieder froh, dass sie existieren und dass sie Zeit mit mir verbringen. Natürlich habe ich nicht für alle die Zeit, die sie verdienen würden, aber ich versuche mein bestes. Auch wenn es nur einmal alle paar Monate zum Kaffee reicht. Mit dir kann ich kein Kaffee mehr trinken. Heute auf den Tag genau bist du überraschend gestorben. Es hat lange gedauert bis ich es wirklich verstanden habe. Heute noch fällt es mir schwer es wirklich zu fassen. Du bist weg. Für immer. Natürlich macht es mich traurig. Ich bin aber auch froh. Froh dich kennen gelernt zu haben. Froh zu wissen, dass du so viele Menschen beeinflusst hast. Froh, dass wir viel gemeinsam erreicht haben. Ich finde es schade, dass so wenige deine Genialität erfasst haben und du der großen Masse unbekannt bist. Leider kann ich einer Toten nichts versprechen, aber normalerweise kann eins auch einer Toten keinen Brief schreiben. Deswegen ist es auch egal. Ich verspreche dir ich werde nicht aufgeben. Ich werde weiter machen, an deinen und meinen Idealen arbeiten. Ich werde alles tun damit du nicht vergessen wirst. Ich werde nicht perfekt sein und ich werde Fehler machen, aber ich denke, dies ist auch in deinem Sinne. Danke Ulrike für all das du getan hast und all jenes welches du noch gerne gemacht hättest.

 

Dein Jan

 

PS: Vielleicht haben wir als Atheisten ja Unrecht und es gibt so etwas wie ein übersichtliches Sein. Oder du bist wie Elvis von Aliens entführt. Beides wäre schön aber das sind ja Märchen immer

Veröffentlicht unter Das BGE - Visionen, Mein Leben oder wie man sonst dieses komisches Konstrukt nennen kann, Ulrike Kroiß | Verschlagwortet mit , , , | Kommentar hinterlassen

Germany and the refugees – a love story

Risks and opportunities of the large immigration

 

1.    The year of the refugees

2015 is a year which was dominated by the topic of refugees. Not because so many new conflicts started or the number of people who are fleeing from wars increased enormous. No, because a small percent of them arrived in Europe. Not by a safety organized way from the international community but they came on their own. Over the Mediterranean Sea where thousands of them drowned. Left behind their home and spend all they have. The European Union was not prepared for this although it was clear that they will come. The civil war in Syria for example already started in 2011. The EU had and has no plan how to handle this situation and how to help the people who are arriving or which are still fleeing from the conflicts.

In the EU the member states handle the situation different and also are different affected by it. The states on the external borders are the first destination of many refugees and that are mainly states which already have some problems on their own. The final destination of the most refuges are the wealthier states in central and north Europe. In 2015 about one million new refugees arrived in Europe.[1] That is comparing to around 60 million refugees in the world only a small fraction.[2] Still in many member countries, especially from the central east, south east and east, are protest from the population and politicians against refugees. In one country were different reactions: Germany. Although a majority of the refugees in Europe wanted and went to it. There are different reasons why it is different and also there exist protest against refuges. The question which this essay want to answer is: Which risks and opportunities Germany has because of this huge migration.

To answer this question there will be first a closer look on the numbers of refugees and on the regulations in Germany. After that it will go more into detail with the list of risks and opportunities. In the end there will be also a part about the European Union and how the refugee crisis affect the institution and how that has an influence on Germany. The text will show that there are no real arguments against refugees, that Germany is in the best condition for this huge number of migration and that Germany can benefits a lot from this situation. But also Germany has to change how the refugees are coming into country because it destabilize the European Union.

Still this essay will not handle with conspiracy theories and populistic arguments. There will no place for racism and islamophobia.

 

2.    The story about the numbers

There were different speculation how many people try to immigrate in Germany in 2015. Mostly right-wing politicians try to get influence and outdo each other with higher and higher numbers. In the end around 1.1 million refugees get registered in the German ESAY-System. This System is for the first registration of refugees and the distribution of them to the federal states. That is lower than many expected. But only 442 000 people asked for asylum in Germany. The reasons why this number is so much under the ESAY-registration are different. It came to double or false registration, some has other final destinations and also few went back to their home country. From the people in the ESAY-system around two third were from Syria, Iraq and Afghanistan. The half of the asylum applications were same countries (inclusive Eritrea with around 2%). Asylum applications from Syria, Iraq and Eritrea have almost a 100% acceptation. People from Afghanistan around 80%.[3]

The number of asylum applications in 2015 is the highest number ever in Germany. The highest peak before was 1993 with 438 000. The number of application increasing since 2008 and highly increasing since 2013. In 2014 there were 203 000 applications and thus less than half as 2015. The numbers were high in every month of 2015 but increased in the summer and were on the highest point in autumn/winter. In spring there still many asylum applications came from people of the Balkans[4] but the number are decreasing. In November only 9.5 % of all applications were from them. The acceptance of asylum applications from the Balkans is about 1 %. [5]

 

3.    There is more than the Refugee Convention

Germany asylum policy is not only affected from the Refugee Convention from 1951. It based on the German constitution. In Article 16a the basic right of asylum for politically persecuted is written down. That is the only basic right which is only for foreigners. A person is politically persecuted if the state persecute him*her because of the political conviction, religion or uncontrollable features like gender, ethnicity or sexual orientation. General emergencies like poverty, civil wars, natural disasters etc. are not included. For this cases the Refugee Convention come in charge. The basic right of asylum got changed always there were a lot of asylum applications. The first time in 1993 and the second time 2015.[6]

The Refugee Convention of 1951 was formed in the beginning to help the refugees after the Second World War. That is why it has been extended with the 1967 protocol. It is the most important international document for the safety of refugees. It is signed from 147 states inclusive all members of the European Union. It defines who is a refugee, what help he*she gets and what duties he*she has. Every signed state has to act according to the refugee convention.[7]

 

4.    The Risks

In Germany it is like in the rest of the higher developed countries: the production get more automated, the qualification someone needs for a job growing and labour-intensive production moves to less developed countries. The economy evolved to a system where high education is necessary and where is no place for unskilled workforces. For such a system less educated immigration is a problem. There would be no or less work for them and there would be a conflict with already in Germany living unskilled workers. To solve that problem the state has to invest money in the education of the refugees. First in language courses because the language barrier is the highest factor why someone cannot find a job. On the other hand the numbers are showing that there is not such a problem. The majority of refugees are young and better educated as the average of the German population. A problem with too many new unskilled workers is preventable and at the moment unlikely.[8]

The people which are arriving in Germany having different backgrounds, different stories, different ideas and different culture. What unites them is that they are strangers in a complete new society. To change that there is a magical word called integration. Because if that does not happen or only badly there will be many problems for them and for their new society. It will come to a division between different parts of the population. There will be discrimination and stigmatisation where the minorities have to suffer. Ghettos are upfront where the quality of life and the opportunities are much lesser than in the rest of the society. This is one of the main risks because integration is nothing what happens automatic. Integration is a process and the state has to be the one which are helping. But more important is the civil society and the population. They have to be open for the newcomers and have to offer their helping hands. And the refugees have to accept them and have to work active on their own integration. The majority of refugees in Germany understand the need of integration and want to do it.[9]

In conurbations and cities with good economy there is a housing shortage. Affordable accommodations are rare and the gentrification rise the rents. This has many reasons. One is the aging society and the other that more and more jobs are concentrated in cities. Of course this problem will increasing with the refugees. Because mainly they also want to live where are jobs, schools, universities and shops. [10] This problem is not new and in the moment the huge number of refugees not increase the housing shortage. But it will if there are not enough new construction of accommodations. Another possibility is a better distribution all over Germany but that would be a more difficult task.

There exist a risk where the majority of people not thinking about: the problem with the possible tensions among the population. In Germany the majority of protest against refugees happens where only less foreigners and people with immigrant background living: in East Germany. Same can be seen in Europe. The countries with less foreigners or people with immigrant background are more xenophobic. This leads to the conclusion that this tensions in the population only based on prejudice. Is not so easy to work against prejudice but here the state has to act. There have to be different programs like education programs or meetings between refugees and sceptics.

 

5.    Opportunities

Germany has a problematic demographic development. Since 1972 more people are dying each year than babies get born. The only group in the population which is growing is the group of the olds. In Germany, like in many other high developed countries, we can´t speak anymore about an age pyramid more like an age mushroom.[11] Till 2050 there will be, if nothing changed, a reduction of the population to around 75 Million. That will change the society enormous. No economic growth, higher load on the social system and underpopulated areas.[12] Also now Germany has too many olds and to less young people. There is a need for workforces everywhere. There is a lack of skilled workers, engineers and doctors. Many refugees, mostly from Syria, are high educated. Around 21% of them have an academic background and 22 % where on the high school and 47% on the secondary school.[13] In 2014 32% of all businesses could not fill all there free apprenticeships.[14] It is more difficult for the businesses to find enough young people. Many of the arriving refugees are under 30 and in the perfect age for apprenticeships.[15] Till 2030 around 6 million workers will retire.[16] In a middle and long term the many young refugees will relive the social system if they get integrate in the German labour market.[17]

Threw the refugees the domestic demand increase. It can be see first in the local economy because the basic needs like food, clothes and similar will be bought near to the accommodations. In a midterm also the German GDP will rise. Experts a expecting 2025 a GDP growth of 0.86 which is only affected by the refugees from 2015.[18] If the German government cutting down other budget because of the refugees the short-term effect of the domestic demand increase will not so big.

The effects of the demographic change can already been seen in East Germany. Many areas are under- or unpopulated. Instructive standing houses, closed schools and shrinking population. All that will also be a problem in the near future in the countryside in Germany. Only the conurbations will increase. Villages and small towns will die out if nothing change.[19] Refugees can be here a solution but it is not so easy. The young people are moving away from this areas mostly because there are no perspectives for them and businesses are moving because there are not enough young people. That all effects the income of the areas there and so the infrastructure. To solve the problem not only refugees have to settle in this areas. With that the state have to invest in the infrastructure, build new higher schools and universities in this areas, have to give businesses incentives that they will move to this areas and gave cheap loans to the people and local economy. But still in the east are the most protest against refugees. There have to be campaigns where they show the locals how they will benefit from the whole process.

The refugees have when they arriving only few material possessions but they carrying a lot with them: their culture. It will be a cultural enrichment for the German society. In 10 to 20 years the best Syrian restaurants outside of Syria will be in Germany. But not only food will enrich the society. The Music will influence local musicians, new kind of sounds will create and the selection of different concerts will increase. In the sector sports the influence of immigration can be seen already today. From the German football team which won the world cup 2014 where six with migration background.[20] Other cultural enrichments are their religion, their philosophy or their literature. Everything which people from Germany normally don´t have a good access. That will create new viewpoints which are important in politics, economy and science.

Of course the investment in the infrastructure and in the education is also good for the local population. There is a need for more than 20 000 new teachers only for the already arrived refugees.[21] In Bavaria, one of the federal states in Germany, more than 100 million euros will invest in the education system for the integration of the refugees under 18. For that around 2000 teachers and psychologist be adjusted. Mainly young teachers which had before not so good chances for a job get employed.[22] In April 2015 the German government decided to make a special budget for investment in the municipalities about 3.5 billion euros. It is manly for investment in the infrastructure and 500 million are especially for infrastructure investment for refugees.[23]

 

6.    The Influence of Germanys refugee policy on the EU

There are some conspiracy theories about that the German decision to accept the refugees and especially quotes from the German chancellor Angela Merkel increased the numbers of refugees which try to come to Germany. The data is showing us something different. Already in the summer the numbers of refugees were very high and that was before the decisions which mentioned.[24] That does not mean that the German policy has nothing to do with the problems many countries have with the huge numbers of refugees. One of the main problems is that if someone want to ask for asylum in Germany he*she has to be inside of Germany. There is no possibility to ask for it in an embassy or another institution outside of the country. Also Germany has no migration policy. An immigration systems like in Canada or the USA are not existing. That is weak for Germany which was already 2013 the second largest country of immigration in the world after the USA.[25] A green card system for normal immigrants and the possibility to ask for asylum in embassy would help to minimalize the chaos which we saw 2015 in Europe. But here not only Germany has to change his policy, the whole European Union failed in the “refugee crisis”. The refusal of some countries to accept refugees, the rules of Dublin 2 and the failure of a collective refugee policy made a bigger damage than the economic crisis.

 

7.    The Conclusion

More unskilled workers would be a problem for the German economy because there is no job for them but the majority of refugees which are coming to Germany are good educated. Most important is that there are enough language courses for them so they can overcome the language barrier. The state, the society and the refugees have to work together that there is a successful integration. The state has to build more accommodations in cities to prevent a housing shortage and there have to be programs to provide tensions among the population.

All risks which coming with the huge number of refugees are preventable. For that there have to be active politics on all levels. From the national government to the local institutions. Lots of work and investment is required to solve the whole situation.

The demographic development in Germany is problematic. On the one hand the number of older people increasing and on the other the number of young people are decreasing. It is the perfect timing for the huge number of refugees. They need workforces, have a lack of skilled workers and many unoccupied apprenticeships. Also there are enough areas where are to less people and the economy will not grow without new immigration.

Germany will have many benefits of the refugees if there will be the right policy. There are enough examples where it was similar. Like after the Second World War where more than 12 million displaced people and refugees in Germany were the engine of the economic miracle. In the 60s and 70s thousands of immigrant workers from Greece, Italy and Turkey helped to grow the prosperity in Germany. And of course the reunion from West and East Germany where 40 million “economic refugees” were taken into the society.

The policy of Germany effected some problems in the European Union. They need to allow that people can ask for asylum in Germany outside of the country and need an immigration system for all other immigrates. Mainly the European Union and every member state has to change. The isolationist policy of many states have to change. Not nationalistic, short term thinking should lead the countries. There is a need for a collective policy not only in the case of the refugees. It is also a chance for the European Union. It could become stronger and closer than before. For that it need a rethink and more solidarity. If nothing will change, the project can fail and the EU can break down. That will affect everyone. Not only in Germany or in Europe also in the whole world.

In the end it is important to say that asylum and helping others should never be about benefits. It is our duty to help, it does not matter if we caused the problems or not. Every human has the right to live in peace. No one is illegal. Refugees welcome.

[1] UN zählt 2015 eine Million neue Flüchtlinge in Europa, zeit online, 22.12.2015, http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-12/un-fluechtlinge-europa-2015.

[2] Uli Post, Die Welt steht nicht vor unserer Tür – Migration: Fakten, Chancen und Risiken, Welthungerhilfe, 27.07.15, http://www.welthungerhilfe.de/blog/migration-chancen-und-risiken.

[3] Erhebliche Unschärfen bei den Asylzahlen 2015, Pro Asyl, 14.01.16, http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/erhebliche_unschaerfen_bei_den_asylzahlen_2015.

[4] The Balkan is here only Albania, Kosovo, Serbia, Macedonia, Bosnia and Herzegovina and Montenegro.

[5] Hubertus Volmer, Der Puffer ist weg – Flüchtlinge und Asylbewerber: die Zahlen, nt-v.de, 14.01.16, http://www.n-tv.de/politik/Fluechtlinge-und-Asylbewerber-die-Zahlen-article16764541.html.

[6] Politisch Verfolgte genießen Asyl – Asylrecht hat in Deutschland Verfassungsrang, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 12.12.2012, http://www.bamf.de/DE/Migration/AsylFluechtlinge/Asylrecht/asylrecht-node.html.

[7] Genfer Flüchtlingskonvention, The UN Refugee Agency, http://www.unhcr.de/mandat/genfer-fluechtlingskonvention.html.

[8] Benno Müchler, Daniel-Dylan Böhmer, Das sind die neuen Syrer in Deutschland, welt.de, 10.09.2015, http://www.welt.de/politik/ausland/article146277482/Das-sind-die-neuen-Syrer-in-Deutschland.html.

[9] Justina A. V. Fischer, Der Flüchtlingsstrom als Chance für Deutschland, Ökonomenstimme, 20.10.2015, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2015/10/der-fluechtlingsstrom-als-chance-fuer-deutschland.

[10] Justina A. V. Fischer, Der Flüchtlingsstrom als Chance für Deutschland, Ökonomenstimme, 20.10.2015, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2015/10/der-fluechtlingsstrom-als-chance-fuer-deutschland.

[11] Sabine Sütterlin, Deutschland – eines der kinderärmsten Länder, Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, January 2008, http://www.berlin-institut.org/online-handbuchdemografie/bevoelkerungsdynamik/regionale-dynamik/deutschland.html.

[12] Demografischer Wandel in Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/demografischer-wandel.

[13] Benno Müchler, Daniel-Dylan Böhmer, Das sind die neuen Syrer in Deutschland, welt.de, 10.09.2015, http://www.welt.de/politik/ausland/article146277482/Das-sind-die-neuen-Syrer-in-Deutschland.html.

[14] DIHK-Ausbildungsumfrage, Deutscher Industrie- und Handelskammertag, http://www.dihk.de/themenfelder/aus-und-weiterbildung/ausbildung/ausbildungspolitik/umfragen-und-prognosen/dihk-ausbildungsumfrage.

[15] Benno Müchler, Daniel-Dylan Böhmer, Das sind die neuen Syrer in Deutschland, welt.de, 10.09.2015, http://www.welt.de/politik/ausland/article146277482/Das-sind-die-neuen-Syrer-in-Deutschland.html.

[16] Chancen für Flüchtlinge, Chancen für Deutschland, radiobremen, 13.01.2016, http://www.radiobremen.de/politik/nachrichten/arbeitgeberpraesident-uebergriffe100.html.

[17] Jan Gänger, „Eine Chance für Deutschland“ Sorgen Flüchtlinge für Wachstumsschub?, nt-v.de, 11.09.2015, http://www.n-tv.de/wirtschaft/Sorgen-Fluechtlinge-fuer-Wachstumsschub-article15911721.html.

[18] Maria Marquart, Arbeitsmarkt, Wohnungen, Finanzen: Wirtschaftsfaktor Flüchtling – was auf Deutschland zukommt, Spiegel Online, 03.11.2015, http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/fluechtlinge-probleme-und-chancen-fuer-deutschland-a-1060764.html.

[19] Tobias Dorfer, Demografie in Deutschland

„Dörfer verschwinden“, süddeutsche.de, 28.12.2012, http://www.sueddeutsche.de/politik/demografie-in-deutschland-doerfer-werden-verschwinden-1.1555594.

[20] Deutschland » Kader WM 2014 in Brasilien, weltfussball.de, http://www.weltfussball.de/teams/deutschland-team/wm-2014-in-brasilien/2/.

[21] Maria Fiedler, 20.000 Lehrer für Flüchtlinge benötigt, tagesspiegel.de, 09.10.2015, http://www.tagesspiegel.de/wissen/kultusministerkonferenz-20-000-lehrer-fuer-fluechtlinge-benoetigt/12432484.html.

[22] Maria Fiedler, 20.000 Lehrer für Flüchtlinge benötigt, tagesspiegel.de, 09.10.2015, http://www.tagesspiegel.de/wissen/kultusministerkonferenz-20-000-lehrer-fuer-fluechtlinge-benoetigt/12432484.html.

[23] Kommunale Investitionen sollen gefördert werden, bundestag.de, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw17_de_nachtragshaushalt/369654.

[24] Hubertus Volmer, Der Puffer ist weg – Flüchtlinge und Asylbewerber: die Zahlen, nt-v.de, 14.01.16, http://www.n-tv.de/politik/Fluechtlinge-und-Asylbewerber-die-Zahlen-article16764541.html.

[25] OECD-Bericht Sie wollen nach Deutschland, faz.net, 01.12.214, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/deutschland-zweitgroesstes-einwanderungsland-laut-oecd-13295919.html.

Veröffentlicht unter Deutschland, English, Europa, Kampf gegen den Braunenscheißdreck, Politikwissenschaft, Studium, Wissenschaft | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | 1 Kommentar

(Mein) Aufbruch in Fahrtrichtung links

Dass ich die Piratenpartei verlassen habe ist ja schon etwas länger her. (Mein Austrittspost kann hier nachgelesen werden) Keine Politik mehr zu machen ist für mich aber keine Alternative. Ob meine politische Zukunft in der Partei „die Linke“ sein wird ist noch nicht entschieden aber trotzdem bin ich einer der Unterzeichner der unten folgenden Erklärung.   Die Linke hat viele Probleme und Baustellen. Ob es ihre Fraktionsvorsitzende im Bundestag ist und ihre populistischen rechten Aussagen oder ihre internen Streitigkeiten die manchmal sogar schlimmer sind als die damals in der Piratenpartei. Ich bin kein Fan von Verschwörungstheorien, Antiamerikanismus, „Putinversteher“, Querfrontlern, Antiimps, Sexisten, DDR Relativierung, Antisemitismus und den vielen anderen Dingen die leider in der Linken zu finden sind. Aber linke „Piraten“ Themen sind zu wichtig und werden gebraucht. Wie und wo sie gemacht werden ist dabei egal. Wichtig ist das unsere Netzwerke weiterhin bestehen, das wir weiter miteinander arbeiten und uns unterstützen. Es ist regional abhängig welche Partei dafür geeignet ist und es ist genauso legitim außerhalb von Parteien und Parlamenten weiter zu machen. Ich freue mich dass so viele von uns weiterhin der Politik erhalten bleiben und hoffe dass viele nach einer Pause wieder einsteigen. Und jetzt die hoffentlich letzte nautische Metapher in meinem Leben: Aufbruch in Fahrtrichtung links

Eine Erkenntnis des Jahres 2015 ist: Die Piratenpartei ist tot. Als ehemalige Angehörige, Funktionsträger*innen und Mandatsträger*innen der Piratenpartei arbeiten wir seit Jahren an den Fragen für die Politik des 21. Jahrhunderts. Die Unzulänglichkeit gewohnter Vorstellungen von Gesellschaft und Politik in einer immer enger zusammenwachsenden Welt gehört genauso zu diesen Fragen wie die konkreten politischen, ökonomischen und sozialen Umwälzungen durch Migration und Digitalisierung. Klassische Begriffe der deutschen Politik, des sozialen Austauschs und der privatrechtlichen Ordnung – wie Arbeit, Wissen und Sicherheit – funktionieren inzwischen anders und verhalten sich in aktuellen politischen Kontexten völlig unterschiedlich zu unseren politischen Erfahrungswerten. Wir haben erkannt, dass – wenn wir ein offenes und menschliches Europa und einen sozialen und freien Umgang mit neuen Technologien wollen – es unsere Aufgabe ist, ebensolchen Unzulänglichkeiten zu begegnen und neue Antworten zu finden.

Obwohl einst genau zu diesem Zweck angetreten, ist die Piratenpartei dabei keine Hilfe mehr. Dem zum Trotz haben wir uns dazu entschieden, uns weiter für ein sozialeres und offeneres Europa und Berlin einzusetzen. Keine Politik zu machen ist für uns keine Option.

Deutschland hat im Jahr 2015 mehr als 700.000 Geflüchtete aufgenommen und zunächst notdürftig versorgt. Wie sehr die europäische und die bundesrepublikanische Gesellschaft durch diesen Umstand erschüttert worden sind, ist noch nicht erforscht. Die Implikationen können uns noch nicht klar werden, sie beginnen und sie enden sicher nicht mit dem Aufstieg der Deutschen Rechten in Form rechtspopulistischer Bewegungen und der rechtsradikalen AfD. Wie sich unsere Gesellschaft verändern muss und verändern wird mit den Menschen in Not, denen wir die Hand reichen, lässt sich sicher auch nicht im Jahr 2016 beantworten. Das muss in den nächsten Jahrzehnten diskutiert und gestaltet werden. Wir sind überzeugt, dass es eine linke Diskurshoheit bei diesen und allen anderen umwälzenden Prozessen der globalisierten Gesellschaft und Ökonomie braucht, wenn nicht nur der gesellschaftliche Fortschritt der nächsten Jahre vorangetrieben, sondern auch der Fortschritt der letzten Jahrzehnte bewahrt werden soll.

Das 21. Jahrhundert zeichnet sich durch eine technologische und gesellschaftliche Entwicklung aus, die Kommunikation global und somit grenzübergreifend ermöglicht. Primat linker Politik muss es jetzt sein, diese globale Bewegungsfreiheit für alle Menschen zu ermöglichen. Nach der industriellen Revolution bietet sich durch die rasante Digitalisierung der globalen Gesellschaft die nächste Chance, grundlegende Prinzipien neu zu bewerten. Immer stärker automatisierte Produktionsprozesse können es ermöglichen, menschliche Arbeit weitgehend überflüssig zu machen. Damals wie heute liegt es in der Verantwortung der menschlichen Gesellschaft selbst, dafür zu sorgen, diese Entwicklungen zu nutzen. Wenn uns Maschinen noch mehr Arbeit abnehmen können, muss das auf eine Art geschehen, dass Arbeiter*innen nicht schlechter dastehen als zuvor, denn die Befreiung von der Arbeit kann auch befreiend für uns alle sein. Es gilt, dem dystopischen, permanent überwachenden und verwertenden Repressionsapparat eine positive, in Freiheit vernetzte Gesellschaftsvision gegenüberzustellen.

Das Jahr 2016 nimmt dabei nicht nur für uns eine Schlüsselrolle ein, angesichts der Tatsache, dass die Piratenpartei, mit der immer noch viele von uns identifiziert werden, im Herbst des Jahres sehr wahrscheinlich keine Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus mehr stellen wird. Es ist vielmehr das erste Wahljahr, nach dem die Migrationsbewegung nach Europa auch Deutschland erreichte. Es ist das Jahr in dem nach fünf Jahren völligen Versagens einer uneinigen Zweckregierung in Berlin wieder neu gewählt werden muss. Die fehlende linke Diskursmehrheit hat sich in den letzten Jahren der großen Koalition deutlich bemerkbar gemacht. Die Seehofers, die Henkels und die Czajas dieser Republik stören sich nicht an dem etablierten braunen Mob, begründet er doch ihre „besorgte Bürger“-Rhetorik und entschuldigt das Versagen bei Aufklärung und Verhinderung von rechten Gewaltexzessen. Wir halten dagegen. Wir fordern politischen Umschwung und werden dafür kämpfen, dass rechte Parolen und Ressentiments in der Berliner Politik nicht weiter Fuß fassen. Wir treten mit aller Kraft gegen die AfD ein, die droht in das Abgeordnetenhaus einzuziehen. Wir arbeiten daran, die Menschen in der Stadt über den wahren Charakter ihrer rechtsnationalen völkischen Verirrung aufzuklären.

Wir stehen für „Netze in Nutzerhand“ und „Religion privatisieren“. Wir fordern endlich eine transparente und offene Verwaltung und nachvollziehbares Regierungshandeln ein. Das hat sich seit dem Einzug der Berliner Piratenfraktionen in das Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlungen weder geändert, noch ist es heute weniger nötig als 2011. Im Gegenteil, das Parlament der Hauptstadt wird seit fast fünf Jahren kontinuierlich entmachtet und in seinen Kontrollmöglichkeiten behindert. Es ist kein Zufall, dass Untersuchungsausschüsse sprießen, wo eine transparentere Verwaltung und ein handlungsfähiges Parlament gemeinsam mit der Öffentlichkeit Skandale schon in der Entstehung hätten verhindern können. In einem Klima des Filzes und der Handlungsunfähigkeit empfinden wir es als Pflicht, politisch aktiv zu bleiben und zu werden und rufen dazu auf, sich mehr und nicht weniger in demokratische Prozesse und Diskurse einzubringen.

Für uns ist der freie Zugang zu Wissen und Informationen für alle eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Für uns sind Gleichstellung und ein diskriminierungsfreier Zugang zu Sicherheit, Wohlstand und individueller Entfaltung kein Versprechen für eine ferne politische Zukunft, sondern eine Frage der Notwendigkeit. Das Aufbegehren der „technologisierten Jugend“ gegen den Missbrauch von Technologie zur lückenlosen Überwachung aller Menschen ist zum Kampf vieler gesellschaftlicher Gruppen gegen den offen auftretenden Polizei- und Überwachungsstaat geworden. Wir brauchen ein Gesellschaftsbild, dass fundamental vom Status quo der Leistungs- und Segregationsgesellschaft abweicht und über den nächsten Wahltermin hinaus reicht. Die organisierte Linke – und damit auch die Partei die LINKE – entwickeln und diskutieren als einzige in Deutschland ein solches Gesellschaftsbild in unserem Sinne. Wir möchten dazu beitragen, diese politische Vision gemeinsam mit der Linken zu entwickeln. Wir haben uns dazu entschieden, die Linke in Berlin im Jahr 2016 und darüber hinaus kritisch und solidarisch zu unterstützen und so an einer solidarischen Alternative zum bürgerlichen Mainstream in Europa mitzuarbeiten.

Wir sehen uns.

Unterstützende

Gerhard Anger, ehem. Landesvorsitzender Piratenpartei Berlin

Monika Belz, Mitglied BVV Treptow-Köpenick

Leonard Bellersen, Generalsekretär Junge Pirat*innen

Benjamin Biel, ehem. Pressesprecher Piratenpartei Berlin

Stephan Bliedung, Mtglied BVV Pankow

Florian Bokor, ehem. Vorstand Piratenpartei Sachsen

Joachim Bokor, ehem. Justiziar Piratenpartei Deutschland

Frederik Bordfeld, Mitglied BVV Pankow

Marius J. Brey, ehem. Piratenpartei

Steffen Burger, Mitglied BVV Neukölln

Katja Dathe, ehem. Schatzmeisterin Piratenpartei Berlin

Martin Delius, Mitglied des Abgeordnetenhauses

Konstanze Dobberke, ehem. Piratenpartei

Cornelius Engelmann-Strauß, Mitglied BVV Treptow-Köpenick

Anisa Fliegner, Sprecherin BAG Netzpolitik die LINKE

Marcel Geppert, Mitglied BVV Marzahn-Hellersdorf

Björn Glienke, ehem. Direktkandidat BTW13 Piratenpartei Berlin

Anne Helm, Mitglied BVV Neukölln

Oliver Höfinghoff, Mitglied des Abgeordnetenhauses

Michael Karek, ehem. Vorstand Piratenpartei Berlin

Jan Kastner, ehem. Kandidat für die Piratenpartei Deutschland

Steven Kelz, Mitglied BVV Marzahn-Hellersdorf

Martin Kliehm, Stadtverordneter Frankfurt am Main

Fabian Koleckar, ehem. Vorstand Junge Pirat*innen Berlin

Lasse Kosiol, Mitglied BVV Spandau

Matthias Koster, ehem. Vorstand Piratenpartei Trier

Andreas Krämer, ehem. Vorstand Piratenpartei Bremen

Peter Laskowski, Bundeskoordinierungskreis der Ema.Li

Hartmut Liebs, ehem. Piratenpartei

Steffen Ostehr, Mitglied BVV Marzahn-Hellersdorf

Julia Schramm, ehem. Bundesvorstand Piratenpartei Deutschland

Volker Schröder, Mitglied BVV Treptow-Köpenick

Daniel Schwerd, Mitglied des Landtages NRW

Dr. Benedict Ugarte Chacon, ehem. Piratenpartei

Dr. Simon Weiß, Mitglied des Abgeordnetenhauses

Jan Zimmermann, ehem. Vorstand Piratenpartei Berlin

 

Veröffentlicht unter die Linke, Piratenpartei, Politisch und stolz drauf! | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | 1 Kommentar

The future of the state – a future without the nation-state

When people are talking about states they always have the idea of a nation-state in their mind. Because they are surrounded by them. After the idea was founded in England in the 16th century more countries followed until most of them became nation-states. (Greenfield 2011, 5) But the nation-state is not the only way states can be organized. In the past different kinds of states can be found and in the future there will also be new kinds. Nation-states and globalisation were connected all the time (Greenfield, 2011, 5-9) but the issues coming with the globalisation cannot be handled by the nation states.

The United Nations mention some of this issues in their Sustainable Development Goals. (United Nations 2015) The former goals, the Millennium Development Goals, were not successful because no nation had to achieve any of them. (United Nations 2010) Nation-states always act according to their own interest. This is the reason why there has to be a global state. This state has to implement all different kinds of cultures and identities. It cannot have a centralized government, it has to be a federation with equal parts which join voluntarily the global state. People should live in this world wherever they want. No borders they have to pass. Only then they can trust their neighbours. The different parts in the world have to be equal, so not everyone move to the rich areas. There should be a Solidarity pact, like in Germany (Wikipedia 2015), that will use to build up poorer areas. Inequality is the major problem in our time also the ineuality between people. Without reducing the inequality a world society is not possible. Inequality creates social instability. (Roubini 2011) The state has to handle the issue that the production is going to be more and more effective and in the same time autonomic. The production only needs some few labours and it will be less in the future. There will not be enough jobs for all people but there will be enough production for everyone. The only way to solve the issue is a basic income for everyone. (Wikipedia 2015) It will be middle course between Socialism and Capitalism.

These are all big plans and it is a long way to go. Only if humanity works together the global issues can be solved. There is something like the tragedy of the commons (Hardin 1968, 1248). The world is common and the nation-states are the individuals which want the best for them, not the best for the group. Nationalism and the nation-state are the enemies of the idea of a united world. We have to leave the nation-state behind us to get one state.

 

 

Sources:

Greenfield, Liah 2011. “The Globalisation of Nationalism and the Future of the Nation-State.” International Journal of Politics, Lecture and Society, 24:4–9.

Hardin, Garrett 1968. “The Tragedy of the Commons” Science, New Series, Vol. 162, No. 3859: 1243-1248.

Roubini, Nouriel. 2011. “The instability of inequality” Aljazeera Opinion, October 14. http://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2011/10/2011101473753217227.html.

United Nations. 2000. Millennium Development Goals http://www.un.org/millenniumgoals.

United Nations. 2015. Sustainable Development Goals http://www.un.org/sustainabledevelopment/sustainable-development-goals.

Wikipedia. 2015. “Solidarpakt” Last modified October 5. https://de.wikipedia.org/wiki/Solidarpakt.

Wikipedia. 2015. “Basic income” Last modified November 22. https://en.wikipedia.org/wiki/Basic_income.

Veröffentlicht unter Das BGE - Visionen, English, Politikwissenschaft, Studium | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , | 1 Kommentar

How a global movement changed my life and failed in their mission

In 2006 Rickard Falkvinge founded the Pirate Party of Sweden after a copyright reform debate. The idea to found a political party with the ideology of free knowledge and the sharing culture, which was spread with the internet around the world, got big attention. That is why it did not take so long until pirate parties in other countries got founded.[1] In the same year, on the 10th September, the Pirate Party of Germany was born.[2] Three years later, I signed my membership. For six years I was a member of a group of people, which could not decide whether they are a movement or a political party. They were and are both. That was their key to success and also the reason for their failure. But in the discussion what the pirates are and what they want to be, there was one fact no one questioned. They are global and a phenomenon of the globalisation.

First, globalisation was the word for a trade phenomenon, through that the world got more connected. Finally the different parts are becoming one world.[3] A result is that the enemy or the problem, movements have to handle, are no longer anymore one nation-state limited. Movements had to face this new challenges and connected across the borders to get more powerful.[4] The idea of free knowledge, one of the main parts in the pirate’s ideology, is deep connected with the internet. This technology is almost borderless and so was one of the enemy: the market of content commercialization. The so called copyright industry.

National-states had always an important role in the history of movements, as an enemy or as the one movements want to force to do something. In the globalised world nation-states are still important institutions and movements still have to address them. It is necessary to act in more than only one state.[5] The laws behind the content commercialization are localized in single nation-states. It was important to act local. Changing the law only in one country will not bring a world of free knowledge. The European Union, a transnational institution, was also handling with this issue.[6] One of the reasons why the pirate parties in Europe always addressed the European Parliament and run for the parliament election.

This culture of ideas, information and images are an outcome of capitalism and is still dominated by its logic. In this global world capitalism has no longer control over it.[7] The capitalistic world order, what the globalized world is, often produced antisystem-anticapitalistic movements.[8] Free knowledge affects the capitalistic structure of the internet and also the fundament of the capitalistic world.

At the moment the first pirate party was founded there was already a community and lots of groups who followed the ideology behind the pirates. But there was no political dimension of it.[9] The pirate parties became a political arm and a part of a global movement, too. Their topics gave them some success. To be a successful political party on a long term you need to evolve. The pirate parties of Sweden and Germany are examples where this did not happen and that is one of the reasons why I am no longer a member of them. But the idea of free knowledge is older than the pirates and it will be still be there when they leave.

[1] Wikipedia.org, 2015, “Pirate Party”, Accessed November 04, https://en.wikipedia.org/wiki/Pirate_Party.

[2] Wikipedia.org, 2015, “Pirate Party Germany”, Accessed November 04, https://en.wikipedia.org/wiki/Pirate_Party_Germany.

[3]Hobsbawm, Eric J. 2000. The World Unified. in F. Lecher and J Boli (Eds) the Globalization Reader, P. 52-56. Malden: Blackwell. P. 55.

[4]McKane, Rachel. 2014. The Globalization of social movements, exploring the transnational paradigm through collection action against neoliberalism from Latin America to the Occupy movement, in The Journal of Undergraduate Research at the University of Tennessee Volume 5 Nr. 1. P. 87 – 110, Knoxcille: University of Tennessee, P. 101.

[5] Moghadam, Valentine M. 2013. Globalization & Social Movements, Islamism, feminism and the global justice movement. Plymouth: Rowman & Littlefield. P. 45.

[6] Baker, Jennifer. 2015. ““EU copyright law fails to set minimum rights”, stresses Pirate Party MEP Julia Reda” Vieuws – The EU policy broadcaster. January 19. http://www.vieuws.eu/ict/eu-copyright-law-fails-to-set-minimum-rights-stresses-pirate-party-mep-julia-reda/

[7] Waterman, Peter. 2001. Globalization, social movements and the new Internationalism. London: Continum. P. 216-217.

[8] Moghadam 2013, P. 54.

[9] Anderson, Nate. 2009. “Political pirates: A history of Sweden’s Piratpartiet” Law & Disorder / Civilization & Discontents. February 26. http://arstechnica.com/tech-policy/2009/02/rick-falkvinge-is-the-face/1/

Veröffentlicht unter English, Piratenpartei, Politikwissenschaft, Studium, Wissenschaft | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , | 1 Kommentar

Trans* Prekariat – Die Bedrohung von Menschen mit Trans* Hintergrund durch Prekarisierung

1.      Einleitung

Jedes Jahr wird in jeder größeren Stadt Deutschlands der Christopher Street Day, kurz CSD, gefeiert. Von LSBTTIQ[1] Netzwerken organisiert, gehen tausende Menschen für Vielfalt und Toleranz auf die Straße. Dabei werden aber nicht alle teilnehmenden Gruppen gleichmäßig wahrgenommen. Besonders Menschen, welche oft als  „transgender“ oder „transsexuell“ eingeordnet werden, haben oft den Eindruck, dass ihre Probleme und Themen vernachlässigt werden. [2] Dabei sind ihre individuellen Lebenswege mit Hürden versehen, mit denen homosexuelle Menschen nicht mehr oder noch nie konfrontiert wurden. Grundlegend dafür ist, dass „Transidentität“ immer noch als Krankheit im SGB V angesehen wird. Dies ist zwar die Grundlage dafür, dass Diagnose, Therapie und medizinische Behandlung von den Krankenkassen übernommen werden[3], gleichzeitig ist es aber auch Ursprung vieler Missstände, die das Leben Betroffener schwieriger gestalten. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates ging auf diese Missstände 2015 in der Resolution Nr. 2048 ein. Sie wies darauf hin, dass in Europa Menschen mit einem Trans* Hintergrund durch Mehrfachdiskriminierungen in der Gesamtgesellschaft, in der Arbeitswelt, aber auch im Privatleben schlechter gestellt sind als andere. Auch hier wurde die Definition als Krankheit als Grundproblem eingeschätzt, zudem führen die Fehleinschätzung und Unterschätzung der Situation dazu, dass praktisch keine Aufmerksamkeit für das Problem existiert.[4]

Betroffene berichten häufig von Unsicherheiten, während und nach dem Outing in verschiedenen Lebensbereichen. Viele davon könnten unter den soziologischen Begriff der Prekarität fallen. Diese Arbeit möchte sich damit beschäftigen, ob und wie weit die Situation von Menschen mit Trans* Hintergrund als prekäre Lebenslage eingeschätzt werden kann. Die zentrale Frage lautet: „Sind Menschen mit einem Trans* Hintergrund von Prekarität stärker betroffen?“

Zunächst wird versucht eine begriffliche Abgrenzung zu schaffen, welche Menschen in die Untersuchungsgruppe fallen, sowie, warum welche Begriffe genutzt und andere dagegen nicht genutzt werden. Im theoretischen Teil wird auf das Phänomen der Prekarität eingegangen und gezeigt, dass es mehr als nur eine Beschreibung einer wirtschaftlichen Lage eines Menschen ist. Anhand dieser Definitionen wird dann in der Analyse der Forschungsfrage nachgegangen. Dabei werden quantitative und qualitative Untersuchungen, aber auch individuelle Berichte von Betroffenen ausgewertet.

Es zeigt sich nämlich, dass sich die Lebenswege deutlich unterscheiden und Verallgemeinerungen nur schwer möglich sind. Trotzdem gibt es viele Gemeinsamkeiten, was die Probleme in der Gesellschaft angeht. Es wird sich zeigen, dass wir weit davon entfernt sind, Menschen, die sich der heterosexuellen Matrix entziehen, gleichwertig zu behandeln und dass insbesondere Menschen mit Trans* Hintergrund die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erheblich erschwert wird. Ausgrenzungen und Diskriminierungen sind alltäglich und passieren bewusst und unterbewusst. Das Aufzeigen dieser Diskriminierungen bedeutet,  Aufmerksamkeit zu erzeugen und ist somit einer der ersten Schritte, die Diskriminierungen abzubauen. Diese Arbeit soll dazu beitragen.

 

2.      Begriffliche Abgrenzung

In der Wissenschaft ist es wichtig, die Untersuchungsgegenstände richtig zu benennen, damit die Ergebnisse nachvollziehbar sind und keine Interpretationsfehler entstehen. In den Sozialwissenschaften geht es immer um Menschen und vor allem um Menschengruppen. Hierbei handelt es sich aber nicht um leblose Gegenstände, sondern um selbstständige Individuen, welche unterschiedliche Geschichten und eine unterschiedliche  Selbstwahrnehmung haben. Deswegen sind Grenzziehungen und Typologisierungen von Menschengruppen immer fehlerhaft und potenziell gefährlich, weil von solchen Untersuchungen die Schlussfolgerung gezogen werden könnte, dass es unterschiedliche „Arten“ von Menschen gibt und dass Mensch X aus Gruppe A sich dementsprechend  verhalten soll. Da wir in der Soziologie trotzdem darauf angewiesen sind Menschen einzuordnen, um ihre Situation zu analysieren, müssen wir uns dieser Problematik bewusst werden. Wir müssen jede Klassifizierung hinterfragen und sie kritisch kommentieren. Dabei müssen wir auch darauf achten, keine diskriminierenden, falschen oder vorbelasteten Begriffe zu nutzen. Wenn sich Menschengruppen hingegen eine eigene Bezeichnung gegeben haben, ist dies zu respektieren und dann sind diese Begriffe zu nutzen.

Da Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, in allen Kulturkreisen und auf der ganzen Welt einen Trans* Hintergrund haben können, ist das Zusammenfassen in eine Gruppe sehr schwierig. Alle Lebenssituationen, individuellen Lebenswege und Selbstwahrnehmungen innerhalb eines Begriffs zu vereinen ist unmöglich. Um eine Einordnung trotzdem möglich zu machen, muss man sich mit den genutzten Begriffen auseinandersetzen und klar beschreiben, welcher Begriff genutzt wird und welche Menschen darunter fallen.

Es ist ein Mythos, dass eine „transsexuelle Persönlichkeit“ existiert. Menschen mit einem Trans* Hintergrund sind genauso facettenreich wie alle anderen Menschen. Das, was sie vereint, ist ein anderes Geschlecht zu haben, als dasjenige, welches ihrem Körper bei ihrer Geburt zugeschrieben wurde.[5]

Menschen mit Trans* Hintergrund gab es schon immer, aber der Begriff „Transsexualismus“, und mit ihm die ersten operativen Eingriffe, wurden erst in den 1950er Jahren eingeführt.[6] Es wurde zur Diagnose, die immer im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten gesehen wurde. Dies erwies sich als falsch. Depressionen, Angstentwicklungen und andere psychische Störungen kamen durch die schwierigen Lebensumstände zwar häufiger vor, viele Betroffene waren trotz dieser Schwierigkeiten aber psychisch komplett gesund.[7]

„Ich möchte schon hier das Fazit meiner 35-jährigen Erfahrung mit einer großen Zahl transsexueller Frauen und Männer vorwegnehmen, (…) Nach meiner heutigen Auffassung können wir Transsexualismus nicht als eine Störung der Geschlechtsidentität betrachten, sondern müssen sie als Normvariante ansehen, die in sich, (…) das ganze Spektrum von psychischer Gesundheit bis Krankheit enthält.“[8]

Udo Rauchfleisch, ein emeritierter Professor der klinischen Psychologie und niedergelassener Psychoanalytiker, konnte in seiner ganzen Laufbahn keine Hinweise dafür finden, dass Menschen mit einem Trans* Hintergrund eine psychische Störung haben. Er distanzierte sich von dem Pathologiekonzept, indem er den Begriff Transsexualität ablehnte und den Begriff Transidentität wählte. Er kritisiert im gleichen Atemzug auch die Vorsilbe Trans, da diese „jenseits“ bedeutet und dies eigentlich auch nicht zutreffend ist. [9] Dieser Kritik schließen sich auch viele Betroffene an.[10]

Auch sonst ist der Begriff „Transsexualität“ irreführend, da „Sexualität“ auf eine sexuelle Neigung hindeutet, dies aber damit nichts zu tun hat.[11] Allerdings kritisieren Betroffene auch den Begriff der Transidentität, da sie ihre Geschlechteridentität ja schon seit ihrer Geburt haben und diese nicht wechseln, was unter diesem Begriff aber verstanden werden könnte.[12]

Der aus dem Englischen übernommene Begriff „Transgender“ hat viele Vorteile, da er sich auf den in der englischen Sprache existierenden Unterschied zwischen „gender“ (dem kulturellen Geschlecht) und „sex“ (dem biologischen Geschlecht) bezieht. Im Deutschen gibt es diese Unterscheidung nicht, darum wird „Gender“ oft genutzt, um das kulturelle Geschlecht zu bezeichnen.[13] Der Begriff wird auch verwendet, um so viele Menschen wie möglich zu bezeichnen, also um eine Art fließender Oberbegriff ohne starre Grenzen zu sein.[14] Bei Transgender wird aber komplett die körperliche Komponente ausgeblendet, die bei vielen Betroffenen eine wichtige Rolle in ihrem Selbstverständnis spielt.

Um so vielen Betroffenen wie möglich und ihren unterschiedlichen Lebenssituationen gerecht zu werden, wird häufig auch der Begriff Trans* Menschen genutzt. Dies macht den Eindruck, dass neben Menschen auch Trans* Menschen existieren. Also eine andere menschliche „Rasse“.[15] Weder entspricht das der Realität, noch will dieser Eindruck vermittelt werden.

Viele dieser Begriffe sind exkludierend und aus der Perspektive der heterosexuellen zweigeschlechtlichen Matrix. Sie definieren, was Menschen nicht sind. Sie sind negative Beschreibungen von Menschen, welche nicht in das konstruierte normative Weltbild passen.[16]

Es zeigt sich, dass es keinen Begriff gibt, der hundertprozentig zutreffend ist und mit dem alle Betroffenen zufrieden sind. Da Geschlecht wie auch Sexualität nur Eigenschaften eines Menschen sind, sollte dies auch so verwendet werden. Die Bezeichnung „Mensch mit einem Trans* Hintergrund“ scheint am wenigsten exkludierend und trotzdem eindeutig genug. Die Problematik mit der Wortbedeutung von „Trans“ existiert weiterhin, die Debatte um dieses Wort und alternative Bezeichnungen sollte aber von Betroffenen geführt werden. Der * zeigt, dass es sich hier um keine endgültige Definition handelt, und dass versucht wird, alle Betroffenen einzubeziehen. Betroffene sind Menschen, welche ein anders Geschlecht haben als das, welches ihrem Körper zugeschrieben wurde. Intersexuelle Menschen, also Menschen die nicht mit eindeutigen oder kulturell männlich und weiblich zugeordneten Geschlechtsmerkmalen geboren wurden, können einen Trans* Hintergrund haben, müssen es aber nicht.

 

3.    Prekarität

Prekär wird oft als ein Phänomen verstanden, das in Westeuropa als überwunden gedacht war: Die Gegenwart von unsicheren Beschäftigungslagen. Doch nicht nur während der weltweiten Wirtschaftskrise und nach den Arbeitsgesetzen, die nach dem Hartz-Konzept entworfen wurden, waren atypische Beschäftigungsformen weit verbreitet. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wurde ihnen aber erst wieder verstärkt geschenkt, nachdem auch das herrschende „Ernährermodell“, in dem ein Ehemann[17] genug für eine ganze Familie verdient, bedroht wurde und prekäre Beschäftigungslagen auch verstärkt Männer bedrohte.[18]

Nach dem Soziologen Klaus Kraemer muss Prekarität mehrdimensional verstanden werden. Es betrifft die Erwerbsstelle, den Erwerbsverlauf und die Lebenslage. Wenn nur ein Teilabschnitt prekär ist, muss die Gesamtsituation nicht als prekär eingestuft werden. Prekarität nur als negative statistische Abweichung des sozialen „Normalstandard“ zu sehen, würde wiederum nicht alle Fälle einbeziehen. Auch eine subjektiv wahrgenommene prekäre Lage hat negative Auswirkungen auf die Betroffenen.[19]

Um die Situation eines Menschen als prekär einzustufen, müssen die Teilaspekte und die Gesamtsituation im Moment und in der Vergangenheit betrachtet werden. Ebenso müssen die Zukunftsaussichten so gut wie möglich analysiert werden. Dabei gibt es einen Teil, der objektiv bewertet werden kann, obwohl der Vergleich ein normativer ist. Dieser ist die objektive Erwerbslage, auch als Position bezeichnet, und hier kann die „erlebte“ Prekarisierung verordnet werden. Die „gefühlte“ Prekarisierung liegt in der subjektiven Sichtweise und Wahrnehmung. Hier sind Prekarisierungsängste, als die Angst vor einer möglichen prekären Situation, der Auslöser. Dieser Teil betrifft auch Menschen, welche wahrscheinlich nie in eine prekäre Lage kommen werden.[20]

Die objektive Erwerbslage teilt sich in drei weitere Untersuchungsfelder auf: Die eine ist die Erwerbsstelle, dort wo klassischerweise die Ursache der prekären Situation gesehen wird. Diese kann aber auch wieder in zwei Ebenen unterteilt werden, die aber wechselseitig zusammenhängen. Wenn Ebene 1 z.B. als prekär eingestuft wird, kann durch Ebene 2 dieses Defizit ausgeglichen werden. Ebene 1 ist die formale Struktur des Beschäftigungsverhältnisses; hier kann die Situation ganz objektiv eingeschätzt werden. Ist der Vertrag unbefristet? Das Einkommen unstetig? Wie ist der Kündigungsschutz und wie die tariflichen und betrieblichen Rahmenbedingungen? In Ebene 2 geht es um die konkrete Arbeitstätigkeit und die ist sehr subjektiv. Es ist die sinnhaft-subjektbezogene und sozialkommunikative Dimension. Wie zufrieden ist der Mensch mit seiner*ihrer Arbeit, sind seine*ihre Ansprüche in puncto Professionalität erfüllt, können Arbeitsbedingungen mitbestimmt werden und existiert eine Teilhabe an der betrieblichen Vergemeinschaftung? Auch der Zugang zu beruflich-sozialen Netzwerken intern und extern muss in die Bewertung einfließen. Zeigen beide Ebenen Defizite, oder eine sehr starke, kann die Erwerbsstelle als prekär eingestuft werden.[21]

Die Erwerbslage darf aber nicht nur in einem Moment betrachtet, sondern muss als gesamte Erwerbsbiografie gesehen werden. Ist sie langfristig prekär oder ist die jetzige Situation nur eine Ausnahme? Gibt es Zukunftsperspektiven oder ist z.B. ein Arbeitsplatzwechsel in dieser Branche Standard oder sogar karrierefördernd? Betrachtet werden müssen die Höhe und die Stetigkeit des Arbeitseinkommens, die Dauer der Beschäftigung, die Dauer des Bezugs von Lohnersatzleistungen und die Nähe bzw. Ferne zu einem dauerhaften „Normalarbeitsverhältnis“. Im Zeitstrahl des Erwerbverlaufs stellen sich die Fragen, welche Erwerbsabschnitte dominieren, und wie die Übergänge zwischen den Abschnitten bewertet werden können. Durch die Analyse der Qualität und der Dauer der Erwerbssequenzen und auch die Reihung kann ein Neigungswinkel festgestellt werden. Es gilt: Ist die prekäre Lage wohlstandsnah, ist sie tendenziell begrenzt, ist sie armutsnah, tendenziell unbegrenzt.[22]

Ein zusätzliches Einkommen in einem Haushalt kann eine schwierige Situation entproblematisieren. Deswegen muss auch die gesamte Lebenslage eines Menschen betrachtet werden. Existieren weitere Einkommen innerhalb des Haushalts? Reichen diese aus, um die prekäre Lage aufzufangen? Im Gegensatz dazu kann die Haushaltsstruktur auch eine prekäre Lebenslage hervorrufen, besonders wenn davor schon ein prekäres Potenzial existiert hat.[23]

Erst wenn Erwerbstelle, Erwerbsbiografie und die Lebenslage betrachtet worden sind, kann die objektive Erwerbslage eingeschätzt werden. Dabei muss bedacht werden, dass Prekarität nicht Armut bedeutet, aber Menschen in einer prekären Lage von Armut bedroht sein können. Es ist eine Schwebelage zwischen Armut und Wohlstand und hat viele Facetten. Es ist ein dynamischer Begriff und es kann in vielen verschieden Bevölkerungsschichten auftauchen. Wie Armut ist Prekarität nämlich relativ. Es ist kein Zustand sondern ein sozialer Prozess. Gefühlte Prekarisierung trifft häufiger in der Mitte der Gesellschaft, die erlebte hingegen an den Rändern auf. Bestimmte soziale Gruppen sind häufiger von Prekarität betroffen als andere.[24]

 

4.    Analyse

Ob Menschen mit einem Trans* Hintergrund als soziale Gruppe gesehen werden können, die stärker von einer prekären Erwerbslage bedroht werden, wird in der Analyse anhand des Modells von Kraemer erarbeitet. Dafür werden die einzelnen Dimensionen nacheinander betrachtet und eingeschätzt.

Innerhalb der ersten Dimension, die der Erwerbsstelle, wird zunächst Ebene 1 aufgeschlüsselt. Menschen mit einem Trans* Hintergrund haben vor ihrem Outing, wenn dieses erst im Erwachsenenleben folgt, alle Variationen von Jobs. Bleibt die Person nach dem Outing in derselben Arbeitsstelle, verändert sich rein Objektiv bei Ebene 1, dem Beschäftigungsverhältnis, nichts. Antidiskriminierungsgesetze verhindern meist eine offene Diskriminierung. Die Veränderungen auf Ebene 1 wegen dem Outing sind deutlich subtiler, beruflicher Abstieg folgt dann meist aus „betrieblichen Gründen“. Auf diese subtile Art kann schwieriger reagiert werden, da auch der juristische Weg ein schwerer mit ungewissem Ausgang wäre. Da das Outing, und die folgenden Veränderungen im Leben für die Betroffenen schon sehr viel Kraft kosten, bleibt den wenigsten noch die Kraft, um mit der*m Arbeitgeber*in zu kämpfen.[25]

Menschen, die durch ihr Outing ihren Job verlieren, aufgeben müssen oder ihn vor dem Outing aufgeben, aus Furcht vor Diskriminierung, finden sich in einer anderen Situation. Wenn sie eine neue Anstellung finden – mehr als die Hälfte aller Menschen mit Trans* Hintergrund sind arbeitslos – verdienen sie deutlich weniger als ihre Kollegen*innen. Vielen bleibt als letzter Ausweg nur der Weg in die Selbstständigkeit. Dort sind alle Kriterien der Ebene 1 nicht zufriedenstellend erfüllt, wodurch diese dann als prekär eingestuft werden kann.[26]

Bei der konkreten Arbeitstätigkeit, also Ebene 2, kann die Veränderung deutlicher gesehen werden. Auch hier gibt es wieder mehrere Möglichkeiten in welcher Situation sich ein Mensch mit Trans* Hintergrund befindet. Es folgt bei Verbleib in der Arbeitsstelle oft ein Entzug des Kundenkontakts, entweder durch Angst vor negativen Reaktionen der Kundschaft oder durch das Vorurteil, dass es sich hier um eine psychische Störung handelt und Menschen mit einer Störung ungeeignet für Kundenkontakt sind.[27]   Dies hat in den meisten Fällen eine negative Auswirkung auf die Zufriedenheit mit der Arbeitsstelle und bei Berufen, wo Kundenkontakt ein wichtiger Bestandteil der Tätigkeit ist, auch eine Verringerung der Professionalität dieser. Menschen, die einen neuen Job haben, sind meistens in einer schlechteren Anstellung mit deutlich schlechteren Lohn als vor dem Outing.[28] Nur die Gruppe der Selbstständigen kann, durch vorherige Aufgabe des Großteils der Absicherungen von Ebene 1, viele Teile ihrer Arbeitsbedingungen selbst bestimmen. Die Möglichkeit der Selbstständigkeit ist aber nicht jeder Branche gegeben und mit vielen Risiken verbunden. Bei den beruflich-sozialen Netzwerken gibt es zwei unterschiedliche Beobachtungen. Am Arbeitsplatz, also bei den internen Netzwerken, kommt es zu einen Abstieg. Support der Arbeitnehmer*innen untereinander, der im Normalfall Selbstverständlich ist, bleibt in den meisten Fällen aus.[29] Spott, Tratsch und unnötige Kritik ist im beruflichen Umfeld alltäglich. Es folgt ein Ausschluss von Kollegen*innengruppen.[30] Dies trifft Menschen, die in der Arbeitsstelle verweilen wie auch die mit neuer und auch Menschen in ihrer Ausbildung. Den Support finden Menschen mit Trans* Hintergrund meistens dann in Betroffenenvereinigungen. Dort wird ein sicheres Umfeld der Solidarität geschaffen, was die Gesellschaft ihnen verweigert.[31] Diese externen Netzwerke sind zahlreich und helfen vielen Menschen. Dort werden zwar Informationen und Erfahrungen ausgetauscht, aber selten kann dies die objektive Erwerbslage verbessern. Es gibt zwar auch viele politische Organisationen, die Forderungen ausformulieren und auch öffentlich vertreten, berufliche Netzwerke für Menschen mit einem Trans* Hintergrund gibt es aber noch sehr wenige. Diese externen Netzwerke und auch die Selbstständigkeit sind als Faktoren nicht stark genug um die Defizite aus den anderen Punkten abzufangen. Deswegen ist Ebene 2 tendenziell prekär. In den meisten Fällen ist die Dimension der Erwerbsstelle bei Menschen mit Trans* Hintergrund als prekär einzuordnen.

In der Erwerbsbiografie gibt es wieder Unterschiede, wann ein Mensch sein Outing vollzogen hat. Folgt dieses erst spät haben Menschen bis zum Outing eine recht erfolgreiche Karriere. Diese kann nur in den seltensten Fällen fortgeführt werden.[32] Behalten sie ihren Job oder bekommen sie einen neuen machen sie deutlich seltener Karriere als ihre Kollegen*innen.[33] Viele der Anstellungen sind aber unter dem „Normalarbeitsverhältnis“ und die Wahrscheinlichkeit, dass sich dies ändert ist sehr gering.[34] Die meisten kommen aber gar nicht ins Arbeitsleben hinein und viele sind langzeitarbeitslos, inklusive aller nachweislichen Sekundärfolgen.[35] Auch sonst sind die Zukunftsaussichten nicht als gut einzuschätzen. Von den Arbeitsagenturen werden Menschen mit Trans* Hintergrund als „unvermittelbar“ eingestuft[36] und auch Zeitarbeitsfirmen lehnen diese ab, vor allem aus Angst sie nicht vermittelt zu bekommen.[37] Bis zum Outing kann die Erwerbsbiografie ganz normal verlaufen, danach ist sie aber in den meisten Fällen von unstetiger Arbeit, langen Phasen der Arbeitslosigkeit, prekären Erwerbsstellen und niedriger Entlohnung geprägt. Ein Normalarbeitsverhältnis ist schwer bis kaum zu erreichen. Nach dem Outing kann eine klare Tendenz Richtung Verschlechterung der Erwerbsbiografie beobachtet werden und damit die ganze Dimension als prekär bewertet werden.

Die Lebenslage einzuschätzen hängt eng damit zusammen im welchem Umfeld die betroffene Person lebte. Je konservativer das Milieu, desto schwieriger fällt es dem Umfeld dies zu akzeptieren. Besonders Partner*innen und Eltern müssen viel verarbeiten, da sie auch viele Erwartungen, Beziehungsformen und Bilder aufgeben bzw. abändern müssen.[38] Im sozialen Umfeld (Familie, Freunde und Bekannte) kann es in vielen Fällen zu einer teilweisen bis kompletten Ablehnung führen, was zu einem Ausstoß aus der sozialen Gruppe führt.[39] Bei nicht kompletter oder auch bei keiner Ablehnung kann es durch Nicht-Sensibilisierung und Nicht-Beschäftigung mit der Thematik und der Situation zu einem Umfeld führen, in dem sich die betroffene Person sehr unwohl fühlt. Häufiger persönlicher Kontakt wird dann vermieden.[40] Innerhalb von Partnerschaften sind viele Konstellationen möglich. In vielen Betroffenenberichten wird der*die Partner*in oft zu einer Art besten Freund*in. Zwar ist der Wille oft existent zusammenzubleiben, aber da sich meistens die sexuelle Orientierung von einem oder beiden[41] Partner*innen nicht verändert, ist die Konstellation selten kompatibel.[42] Insgesamt ist es schwierig den Haushaltskontext einzuschätzen. Es ist aber nicht häufig, dass die*der Betroffene innerhalb der „normativen“ Kleinfamilie lebt, in dem der andere Teil innerhalb der Partnerschaft Hauptverdiener*in ist, deswegen kann davon ausgegangen werden, dass die prekäre Erwerbsstelle und Erwerbsbiografie durch den Haushaltskontext aufgegangen werden kann. Es kann im Gegensatz, wenn der*die Hauptverdiener*in sich outet, den anderen Teil in eine prekäre Lebenslage versetzen.

Durch die Angst durch ein öffentliches Outing sozial und beruflich abzusteigen, verheimlichen mehr als die Hälfte aller Menschen mit Trans* Hintergrund in ihrer Arbeitsstelle ihr Geschlecht.[43] Dies kann die erlebte Prekarisierung verhindern, führt aber zu einer gefühlten. Diese wandelt sich nach einem Outing, egal ob ein freiwilliges oder ein Fremdouting, mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine erlebte.

 

5.    Fazit

Die Unterschiede innerhalb der Lebenswege von Menschen mit Trans* Hintergrund sind sehr groß und so existiert auch im Beruf eine hohe Diversität. Mit Blick auf die objektive Erwerbslage macht es scheinbar kaum einen Unterschied, wann das Outing war.

Innerhalb der Dimension der Erwerbsstelle gibt es bei Ebene 1, dem Beschäftigungsverhältnis, nach dem Outing zunächst keine Veränderung. Solche könnten vor dem Arbeitsgericht nachgewiesen werden und zu einer Verurteilung führen. Dies hindert viele Arbeitgeber*innen nicht vor kleinen und subtileren Verschlechterungen in Ebene 1, wogegen viele Betroffene nicht vorgehen. Die Flucht aus der alten Arbeitsstelle in die Arbeitslosigkeit oder Selbstständigkeit als diskriminierungsfreieres Umfeld wird vorgezogen. Die Aufgabe von sozialer Sicherheit wird dabei in Kauf genommen.

Ebene 2 hingegen ist in den meisten Fällen als prekär zu betrachten. Weder die Zufriedenheit noch die eigenen Ansprüche an die Professionalität innerhalb der Tätigkeit sind auf einem hohen Level. Der Ausschluss aus internen beruflich-sozialen Netzwerken schafft ein Klima, in dem sich Menschen nicht wohlfühlen und weitere Nachteile. Externe Netzwerke und auch die gewählte Selbstständigkeit können alle Defizite innerhalb beider Ebenen nicht aufheben.

Die Erwerbsbiografie der Betroffenen, die sich innerhalb des Berufslebens outen, sind bis zu diesem Zeitpunkt vergleichbar mit denen von Menschen ohne Trans* Hintergrund. Danach kommt es zu schweren Brüchen in der Karriere und oft wenig Zukunftsaussichten. Die Menschen haben in der Arbeitswelt verstärkt mit Diskriminierung, Vorurteilen und falschen Ängsten zu kämpfen. Junge Menschen mit Trans* Hintergrund finden oft keinen Zugang zum Arbeitsmarkt und müssen mit Schwierigkeiten in der Ausbildung rechnen.

Die Lebenslage kann sehr unterschiedlich sein. Auch wenn Bezugspersonen existieren, können diese selten die finanziellen Ausfälle auffangen. Natürlich haben Menschen, die aus einer wohlhabenderen Situation starten, bessere Chancen eine prekäre Lebenslage zu vermeiden oder zumindest nicht lange in dieser zu bleiben. Dadurch, dass innerhalb der Gesellschaft aber immer noch keine Akzeptanz von Menschen mit Trans* Hintergrund existiert, ist die Lebenslage tendenziell auch prekär.

Werden alle Dimensionen betrachtet, wird deutlich, dass die objektive Erwerbslage in den meisten Fällen prekär ist. Menschen mit einem Trans* Hintergrund sind also eine soziale Gruppe, welche verstärkt bedroht ist durch eine erlebte Prekarisierung. Selbst wenn durch Angst des Abstiegs das Geschlecht an der Arbeitsstelle verschwiegen wird, existiert eine in diesem Fall berechtigte und sehr bedrohliche gefühlte Prekarisierung. Die vielen Fälle von Langzeitarbeitslosen und auch die Diskriminierung innerhalb der Strukturen von Behörden zeigen aber, dass viele Menschen mit Trans* Hintergrund auch von Armut bedroht sind bzw. darunter leiden.

Neben Aufklärung ist aktive Unterstützung durch den Staat und den Ausbau von Antidiskriminierungsmaßnahmen nötig. Dafür braucht es aber auch eine Veränderung der staatlichen Struktur u.a. durch die Aufgabe des Zwangs der binären Geschlechtseinteilung. Genauso muss die Stigmatisierung als Trans* als Krankheit beendet werden und der Zugang zu Hilfe, ob psychische oder medizinische, erleichtert und entbürokratisiert werden. Erst durch eine wirkliche Akzeptanz der Vielfalt innerhalb der Gesellschaft und individuelle Förderung kann die Situation von Menschen mit Trans* Hintergrund am Arbeitsmarkt nachhaltig verbessert werden.

 

[1] Abkürzung für lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, transsexuelle, intersexuelle und queere Menschen.

[2] Vgl. Wieviel Vielfalt darf es sein? Wie bunt ist bunt?, atme-ev.de, 2015, http://atme-ev.de/o-ton/CSD2015_wiebuntistbunt_precut.mp3, Zuletzt Aufgerufen am: 29.09.2015

[3] Vgl. Transsexualität und Intersexualität, endokrinologikum.com, http://www.endokrinologikum.com/fachbereiche/endokrinologie/transsexualitaet-und-intersexualitaet.html, Zuletzt Aufgerufen am: 29.09.2015

[4] Resolution 2048 (2015) 1 Discrimination against transgender people in Europe http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/X2H-Xref-ViewPDF.asp?FileID=21736&lang=en

[5] Vgl. Udo, Rauchfleisch, 2006: „Transsexualität – Transidentität Begutachtung, Begleitung, Therapie“, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 7.

[6] Vgl. Ebd. S. 11.

[7] Vgl. Ebd. S. 7-8.

[8] Ebd. S. 22.

[9] Vgl. Ebd. 23.

[10] Vgl. Wieviel Vielfalt darf es sein? Wie bunt ist bunt?, atme-ev.de, 2015, http://atme-ev.de/o-ton/CSD2015_wiebuntistbunt_precut.mp3, Zuletzt Aufgerufen am: 29.09.2015

[11]Vgl. Wegweiser: Begriffe und Definitionen, transsexuell.de, http://www.transsexuell.de/wegweiser-begriffe.shtml, Zuletzt Aufgerufen am: 29.09.2015

[12] Jack, Walker, 2012: „Trans* Menschen und Soziale Arbeit.“ Veröffentlichte Bachlorarbeit, FHS St. Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit, S.21.

[13] Vgl. Ebd. 21.

[14] Vgl. Wegweiser: Begriffe und Definitionen, transsexuell.de, http://www.transsexuell.de/wegweiser-begriffe.shtml, Zuletzt Aufgerufen am: 29.09.2015

[15] Dieser Gedanke kam mir schon in der Konzeptionsphase dieses Textes, ähnliches spricht auch Jay Eric Jones in der Diskussionsrunde „Wieviel Vielfalt darf es sein. Wie bunt ist bunt?“ an. (Link siehe oben)

[16] Vgl. Jack a.a.O. S. 22.

[17] Hier als Ehemann in dem Heteronormativen Familienmodell verstanden.

[18] Vgl. Mona, Motakef; Julia, Teschlade; Christine, Wimbauer, Was ist normal? Was ist prekär? Überlegung zur Ambivalenz eines zeitdiagnostischen Konzept, Sozbog, 12 Juli 2014, http://soziologie.de/blog/2014/07/was-ist-normal-was-ist-prekaer-ueberlegungen-zur-ambivalenz-eines-zeitdiagnostischen-konzepts/, Zuletzt Aufgerufen am: 28.09.2015

[19] Vgl. Klaus, Kraemer, 2008: „Prekarität – was ist das?“ in Arbeit, Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik, S.77-90, Heft 1, Jg. 17, S. 77-78.

[20] Vgl. Ebd. S. 84-86.

[21] Vgl. Ebd. S. 79-80.

[22] Vgl. Ebd. S. 81-82.

[23] Vgl. Ebd. S. 82-83.

[24] Vgl. Ebd. S. 87-88.

[25] Vgl. Tina, Groll, Transsexuelle brauchen einen Kündigungsschutz, zeit.de, 1 September 2011, http://www.zeit.de/karriere/beruf/2011-08/interview-schicklang-transsexualitaet, Zuletzt Aufgerufen am: 29.09.2015

[26] Vgl. Tilman, Steffen, Unter Kollegen im falschen Körper, zeit.de, 22 Dezember 2010, http://www.zeit.de/karriere/beruf/2010-12/diskriminierung-trans-personen-antidiskriminierungsstelle, Zuletzt Aufgerufen am: 29.09.2015

[27] Vgl. Ebd. und Groll a.a.O..

[28] Vgl. Jack a.a.O. S. 49.

[29] Vgl. Ebd. S. 44.

[30] Vgl. Steffen a.a.O..

[31] Vgl. Rauchfleisch a.a.O. S. 89.

[32] Vgl. Jack a.a.O. S. 47.

[33] Vgl. Steffen a.a.O..

[34] Vgl. Heiko, Prengel, Neues Geschlecht, neuer Job, zeit.de, 29 Juli 2011, http://www.zeit.de/karriere/beruf/2011-07/diskriminierung-transgender-beruf, Zuletzt Aufgerufen am: 29.09.2015

[35] Vgl. Jack a.a.O. S. 47.

[36] Vgl. Groll a.a.O..

[37] Vgl. Prengel a.a.O..

[38] Vgl. Rauchfleisch a.a.O. S. 91-92.

[39] Vgl. Jack a.a.O. S. 47.

[40] Vgl. Ebd. S.48.

[41] Oder auch mehreren Personen innerhalb einer nicht Zwei-Menschbeziehung.

[42] Vgl. Vgl. Karin, Prummer; Dominik, Stawski, Im Fremdkörper, zeit.de, 15 April 2009, http://www.zeit.de/campus/2009/03/transsexualitaet, Zuletzt Aufgerufen am: 29.09.2015

[43] Vgl. Steffen a.a.O..

Veröffentlicht unter Gender Studies, Politikwissenschaft, Sozialwissenschaft, Studium, Wissenschaft | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | Kommentar hinterlassen